»Du bist hier sehr herzlich willkommen, Pin«, sagte sie, während sie den Topf vom Feuer nahm und auf den Tisch stellte. Energisch dirigierte sie den Jungen zur vorderen Bank, wo er sich setzen sollte. Dann wischte sie Knochen und Brotkrümel von einem Teller und stellte ihn vor Pin hin. »Nun nimm dir ordentlich«, sagte sie lächelnd. »Und keiner verlässt den Tisch, bevor alles aufgegessen ist.«
»Das ist keine Strafe«, sagte Beag, der sich den dicken Eintopf bereits auf den Teller löffelte.
Aluph reichte den Gerstensaft über den Tisch und Pin füllte seinen Holzbecher, dann hielt er ihn hoch und sah Beag an. »Vielen Dank«, sagte er und nahm einen tiefen Schluck.
Gerade als er sich den ersten Löffel des Fleischgerichts einverleiben wollte, kam ein älterer Mann in die Küche und nahm still auf einem der geschnitzten Stühle Platz. Pin sah kaum auf, so vertieft war er in sein Essen, doch den Blick des zweiten Neuankömmlings erwiderte er länger. Und nach dem Tag, den er hinter sich hatte, wunderte es ihn nicht einmal besonders, dass er direkt in die dunklen Augen von Juno Pantagus schaute.

Beim Essen unterhielten sie sich. Die Themen bewegten sich jedoch in engem Rahmen, sie drehten sich hauptsächlich um das Wetter und um den Silberapfel-Mörder. Aluph erklärte, es sei so kalt, dass selbst der Foedus langsamer fließe als sonst, und Beag wusste von einer weiteren Leiche im Fluss zu berichten. »Der Foedus hat sie ausgespuckt«, sagte er in seiner unnachahmlichen Art. »Als hätte sie ihm nicht geschmeckt.« Pin sagte kaum etwas und aß, bis er das Gefühl hatte, er müsste platzen. Ab und zu linste er verstohlen zu Juno hinüber, und jedes Mal sah er, dass sie ihn anstarrte. Während sie ihm vorgestellt worden war, hatte sie ein wenig gelächelt, aber das war auch alles. Als sie dann einmal doch wegsah, betrachtete er sie genauer. Sie hatte schwarzes Haar, das in Locken vom Scheitel bis über die Schultern fiel. Ihre Augen waren wie tiefes dunkles Wasser und ihre Haut war so weiß, dass Pin überzeugt war, er könnte, wenn sie einen Schluck Wein tränke, die rote Flüssigkeit durch ihre Kehle rinnen sehen. Ihr Tischnachbar Mr Pantagus, der momentan weder Schnurrbart noch Kinnbärtchen trug, wirkte müde und schwach, doch das anregende Geplauder des Mädchens schien ihn zu beleben.
Unweigerlich wandte sich das Gespräch auch Pin zu, und so erzählte er widerstrebend seine jammervolle Geschichte. Wie er seine Unterkunft verloren hatte (jeder am Tisch kannte Mr Gumbroots Ruf und alle nickten teilnahmsvoll), von seiner Stelle bei Mr Gaufridus (alle wollten mehr von seinen Methoden hören) und schließlich von seiner Aufgabe als Leichenwächter.
»Und ist schon mal einer aufgewacht?«, fragte Beag. »Ich meine, wegen dieser Möglichkeit bewachst du sie ja.«
»Diese Erfahrung konnte ich noch nicht machen«, sagte Pin vorsichtig, denn er registrierte, dass Juno ihn gespannt beobachtete.
»Du weißt dich gepflegt auszudrücken, Junge«, sagte Mr Pantagus nachdenklich, der damit zum ersten Mal an diesem Abend sprach.
»Das verdanke ich meiner Mutter«, sagte Pin leise. »Sie kam aus einer angesehenen Familie, aus der Familie Merdegrave. Sie hat mir viele Dinge beigebracht, Lesen und Schreiben, mit Messer und Gabel zu essen und an andere zu denken.«
»Und wie ist dein Familienname?«, fragte Mrs Hoadswood.
Pin zögerte. Einfach nicht zu antworten ging nicht, das hätte einen seltsamen Eindruck gemacht. Aber er wollte auch nicht aus Mrs Hoadswoods Pension geworfen werden, bevor er nicht wenigstens die Gelegenheit zu einer Übernachtung gehabt hatte.
»Carpue, nicht wahr?«, half Beag nach. »Das hast du auf der Brücke gesagt.«
»Carpue?«, wiederholte Mr Pantagus und zog die Augenbrauen hoch.
Pin saß da wie ein Häufchen Unglück. Er wusste, was als Nächstes käme. Es war Aluph, der die Frage stellte:
»Kennst du einen Oscar Carpue, den Kerl, der …«
»Ja. Oscar Carpue ist mein Vater, aber ich habe ihn nicht gesehen, seit …«
Mrs Hoadswood, die Pins Unbehagen sah, unterbrach ihn. »Und was ist mit deiner Mutter?«
»Sie ist tot. Schon seit über einem Jahr.«
»Dann brauchst du eine Bleibe«, sagte sie energisch. »Ich habe eine kleine Dachkammer, wenn dir das genügt.«
Pin war sprachlos vor Freude. Was für ein Glück! »Aber natürlich«, sagte er dankbar.
»Also abgemacht«, sagte Mrs Hoadswood gut gelaunt. »Und jetzt wollen wir nicht mehr reden, nur noch essen und feiern. Beag, habt Ihr heute Abend ein Lied oder eine Geschichte für uns?«
Beags Augen leuchteten auf. Er schob seinen Teller und seinen Krug zur Seite und sprang auf den Tisch.
»Allerdings«, sagte er mit strahlendem Lächeln.
Kapitel 18

Beag erzählt
Als ich ein Junge war, nicht viel kleiner als jetzt, wohnte ich in einem Ort am Fuß des Teufelsrückens, einem steilen, kahlen Berg. Es war eine geschützte Stelle, hinter uns der Berg und vor uns die See. Im Sommer konnte ich frühmorgens zusehen, wie die rosigen Finger der Morgendämmerung das Wasser in ein schimmerndes Rosarot verwandelten. Im Herbst hingen die dicken Wolken so tief, dass manchmal der halbe Berg darin verschwand. Im Winter war das Salzwasser immer steingrau und der Teufelsrücken weiß von Schnee. Mit Beginn des Frühlings ließ dann das Tauwetter die Flüsse anschwellen und man konnte ringsum hören, wie das Land zu neuem Leben erwachte. Ich schwöre, mir treibt es noch jetzt die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke.
Als ich älter wurde, aber nicht größer, kam das Gerücht auf, dass ich gar nicht der Sohn meiner Mutter sei, sondern ein Wechselbalg, ein Kind der Berggeister, das sie anstelle des gestohlenen echten Babys bei meinen Eltern gelassen hätten. Die Dorfbewohner waren beunruhigt und verlangten den Beweis, ob ich tatsächlich ein Kind der Geister sei oder nicht.
›Du musst auf den Cathaoir Feasa gehen‹, sagten sie.
Ganz oben auf dem schmalen Grat des Teufelsrückens war ein alter Baumstamm. Den Baum selbst, eine uralte Eiche, hatte schon vor vielen Jahren ein Blitz zerschmettert und übrig geblieben war nur der verkohlte Stumpf. Und das Merkwürdigste war, dass dieser Stumpf auf eine Weise ausgebrannt war, dass er wahrhaftig einem Thron glich, einem Thron mit allem Drum und Dran, zwei Armlehnen, vier stabilen Beinen und einer hohen Rückenlehne. Dieser hölzerne Thron wurde Cathaoir Feasa genannt – Stuhl der Erkenntnis. Die Leute glaubten, wer in der Lage sei, eine ganze Nacht von der Abend- bis zur Morgendämmerung auf dem Cathaoir Feasa zu verbringen und am nächsten Morgen aus eigener Kraft den Berg hinunterzukommen, der müsse zweifelsfrei ein Kind der Geister sein. So ein Kind werde mit der Gabe der Dichtkunst sowie mit einer ausgeprägten Reiselust gesegnet.
Meine Eltern warnten mich vor der Gefahr. Der Letzte, der auf dem Cathaoir Feasa gesessen hatte, war als nervliches Wrack zurückgekehrt. Er hatte keine Verse, sondern nur unzusammenhängendes Gestammel von sich gegeben, und gereist ist er in seinem Leben nicht weiter als bis zur Irrenanstalt. Ich will nicht leugnen, dass mir Bedenken kamen, aber ich war auch neugierig. Und so kam es, dass ich mich im fortgeschrittenen Alter von zehn Jahren von den Dorfbewohnern verabschiedete und an einem Herbsttag frühmorgens zum Teufelsrücken aufbrach. Es war frisch und ich machte mich gut gelaunt an den Aufstieg. Als ich die halbe Strecke hinter mir hatte, änderte sich das Landschaftsbild allmählich. Es war plötzlich, als hätte der Winter schon Einzug gehalten. Die wenigen Bäume, die hier wuchsen, reckten ihre kahlen Äste in den Himmel, und der Boden bestand zunehmend aus blankem Felsgestein. Der Himmel wurde grau, Regen drohte und der Wind frischte auf. Die See, herrlich blau bei meinem Aufbruch im Dorf, war nun fast schwarz und mit brandenden weißen Wellenkämmen gespickt. Mit der untergehenden Sonne sank auch meine Zuversicht.
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