„Freut mich, Sie kennen zu lernen. Meine Freunde nennen mich Kid.“
Ronnie warf noch einen flüchtigen Blick auf den Leichenwagen und fuhr los. Er hätte schwören können, dass sich eine der Gardinen im Fonds bewegt hatte. Mehr noch. Für einen Sekundenbruchteil hatte er geglaubt, dort ein Gesicht gesehen zu haben.
„Haben Sie jemanden, der auf den Wagen aufpasst?“, fragte Ronnie deshalb so beiläufig wie möglich.
„So schlimm ist die Gegend hier nicht. Außerdem habe ich ja abgeschlossen. Und ich werde nicht lange weg sein. Da sollte nichts anbrennen. Und außerdem, wer würde schon einen Leichenwagen klauen? Wäre den meisten Leuten doch viel zu unheimlich.“
„Schon gut. Ich hatte nur den Eindruck, Sie hätten sich mit jemandem unterhalten, als Sie zum Wagen zurückgegangen sind.“ Ronnie beobachtete, wie Kid hinter sich griff und umständlich einen Gegenstand aus seiner Gesäßtasche zog, den er gut sichtbar auf seinem Oberschenkel platzierte.
Ronnie schluckte, als er das Klappmesser betrachtete. Zwar besaß er selbst auch ein Taschenmesser, doch im direkten Vergleich wirkte seine Version geradezu niedlich.
Er schluckte und zwang sich, wieder auf die Straße zu achten. Er beschleunigte den Wagen. Nicht zuviel, damit es Kid nicht auffiel. Aber genug, um sich selbst etwas zu beruhigen. Es waren nur zwei Kilometer bis zu dieser Autowerkstatt. Nur ein paar Minuten. Und wenn er noch ein wenig schneller fuhr, würde er diesen merkwürdigen Typ umso schneller wieder loswerden.
Das hieß, wenn er denn überhaupt vorhatte, sich von Ronnie an dieser Autowerkstatt absetzen zu lassen. Vielleicht würde er ihn schon vorher um die Ecke bringen, ihn in irgendeinen Hinterhalt locken und überwältigen. Ronnie sah sein Konterfei bereits auf einem an eine Laterne geklebten Vermisstenplakat und wischte sich kalte Schweißtropfen von der Stirn.
„Ist ziemlich unbequem, wenn man drauf sitzt“, lachte Kid und wischte den Griff des Messers an seiner Jeans ab.
„Ach so“, erwiderte Ronnie, ebenfalls um einen lockeren Tonfall bemüht. „Und ich dachte schon…“
„Dass ich Sie abstechen will?“ Wieder lachte er. „Keine Sorge. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich mitnehmen. Ich hätte wenig Lust gehabt, die Landstraße entlangzulaufen. Außerdem bin ich ziemlich in Eile. Ich habe heute Abend noch eine wichtige Verabredung. Also, kein Grund zur Sorge, ich werde Ihnen nichts tun.“
„Na dann“, sagte Ronnie und drehte das Radio lauter. Ein Blick auf den Kilometerstand verriet ihm, dass sie etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten.
Gleich bin ich ihn wieder los. Das war das erste und letzte Mal, dass ich einen Fremden mitgenommen habe.
„Was hat Sie in diese Gegend verschlagen?“ Kid warf einen Blick auf die auf der Rückbank liegende Zeltausrüstung. „So ganz alleine.“
„Eigentlich bin ich mit meiner Freundin hier. Wir machen Urlaub und wollten Zelten. Aber nachdem wir in den letzten Tagen irgendwo in der Pampa übernachtet haben und ziemliches Pech mit dem Wetter hatten, wollte ich heute zur Abwechslung mal in ein Hotel ausweichen. Oder in eine Pension. Wenigstens bis das Zelt und die Schlafsäcke wieder richtig trocken sind. Und eine Badewanne könnte ich auch mal wieder gebrauchen.
Himmel, warum erzähle ich ihm das überhaupt? Das geht ihn doch gar nichts an.
„Und?“
„Was, und ?“
„Sie sind alleine unterwegs. Wo haben Sie Ihre Freundin gelassen? Ist sie schon im Hotel?“
„Nein. Wir haben uns gestritten und sie ist abgehauen. Jetzt fahre ich schon seit fast zwei Stunden durch die Gegend und suche sie. Aber sie ist wie vom Erdboden verschwunden.“
„Verstehe.“ Kid hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte in den blauen Abendhimmel.
„Wie bitte?“ Ronnie drehte das Radio wieder leiser.
„Ich sagte, ich verstehe. Haben Sie denn eine Idee, wo Sie noch nach ihrer Freundin suchen könnten?“
„Nein. Ehrlich gesagt ist es die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.“
„Vielleicht sollten Sie sich erst mal ein Zimmer suchen. Zu dieser Jahreszeit sind viele Hotels und Pensionen ausgebucht. Vor allem, wenn Sie sich erst am Abend auf die Suche machen. Und dann würde ich an Ihrer Stelle die übrigen Übernachtungsmöglichkeiten im Ort abklappern. Ein Zelt scheint Ihre Freundin ja nicht mehr zu haben.“ Er blickte erneut auf die auf der Rückbank liegende Ausrüstung. „Und unter freiem Himmel wird sie kaum übernachten wollen. Und dann könnten Sie noch in der Jugendherberge nachfragen. Vielleicht taucht sie ja dort auf. Je nachdem, wie viel Geld sie dabei hat. So da wären wir. Danke fürs Mitnehmen.“
Er deutete mit dem Finger auf ein weiß getünchtes Gebäude mit Reetdach. „Die Werkstatt befindet sich hinten auf dem Hof. Der alte Karl ist ein Kumpel von mir. Er fährt mich dann bestimmt zu meinem Wagen zurück. Sie brauchen sich also keine weiteren Umstände zu machen."
Das hätte ich sowieso nicht getan. Ich bin froh, dass ich dich wieder los bin.
„Wäre auch kein Problem gewesen. Ich hätte Sie auch wieder zurückgefahren. Aber ehrlich gesagt, ich bin ganz froh, dass ich mich so schnell wie möglich nach einem Zimmer umsehen kann. Und danke für den Tipp mit den Hotels. Und der Jugendherberge. Ich werde es in jedem Fall ausprobieren. Vielleicht habe ich ja Glück und finde Sandy dort tatsächlich. Ist ein ziemlich blödes Gefühl, wenn man so im Streit auseinandergeht und dann nicht weiß, wo der andere steckt.“
„Kann ich mir vorstellen“, erwiderte Kid. „Ihre Freundin heißt Sandy? Schöner Name. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Suche.“
Dann öffnete er die Tür und stieg aus dem Wagen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er in Richtung des Hauses davon.
Ronnie beobachtete, wie Kid das Messer im Gehen zurück in die Gesäßtasche seiner Jeans schob.
Alter Scheiß. Er war froh, diesen Typ wieder los zu sein. Er hatte die ganze Zeit über ein verdammt mulmiges Gefühl gehabt. Und da war noch etwas.
Das Messer.
Ronnie hatte etwas entdeckt. Etwas, das ihm überhaupt nicht behagte. Es erinnerte ihn an einen Fernsehkrimi, den er vor einiger Zeit mit Sandy angesehen hatte. Da hatte es nicht an einem Messer, sondern an einer Steinskulptur geklebt, aber die Farbe war genau dieselbe gewesen.
Getrocknetes Blut.
Aber vermutlich ging nur seine Phantasie mit ihm durch. Mit Sicherheit war dieser Kid ein ganz harmloser Typ und Ronnie war so nett gewesen, ihm aus der Patsche zu helfen. Und die Idee mit den Hotels war wirklich gut.
Wieso war er nicht schon von selbst darauf gekommen?
Er lenkte den Wagen zurück auf die Straße und gab Gas.
KAPITEL 11
Kid sah mit zusammengekniffenen Augen in die untergehende Sonne und beobachtete, wie der Opel seinen Weg über die Landstraße ohne ihn fortsetzte. Als der Wagen hinter der nächsten Biegung verschwunden war, wandte er sich dem mit Reet gedeckten Gebäude zu.
Nur zufällig hatte er den Hinweis auf die Autowerkstatt vor einigen Monaten entdeckt. Es war auf seiner ersten Tour über die Insel gewesen und er hatte sich gerade auf der Suche nach einem geeigneten Versteck befunden, als ihm das von dichtem Efeu eingerahmte Messingschild aufgefallen war.
Er schaute sich um. Es war niemand zu sehen. Nicht einmal ein einsames Auto kam die Straße entlang.
Perfekt.
Er ging auf die Eingangstür des Hauses zu. Weißer Kies knirschte unter seinen Schritten. Gelbe und lilafarbene Stiefmütterchen säumten den schmalen Weg. Ein Gartenzwerg hielt eine Gießkanne in der Hand, auf deren abblätternder grüner Farbe Kid die glänzende Schleimspur einer Schnecke ausmachte.
Er blieb vor der Tür stehen. Eine weiße Gardine hing in dem kleinen, quadratischen Fenster. Kid schirmte seine Augen mit den Händen ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, durch das Fenster einen Blick ins Innere des Hauses zu werfen.
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