»Das sieht richtig gut aus«, lobte ich, nachdem ich das Glas in die Hand genommen und gegen das Licht gehalten hatte. »Denke, du hast endlich die perfekte Rezeptur.« Nach einem Schluck sagte ich: »Wow, schmeckt großartig.«
»Danke, aber es ist ein Samuel Adams.« Er beugte sich über den Tresen, um auf die Karte zu schauen. »Kalifornien, mh?«
»Ich kann es selbst kaum glauben. Am Pazifik bin ich eigentlich noch nie gewesen.«
»Hatte mal eine Flamme dort.«
»Echt?«
»Charlie hieß sie. Lustiger Name für ein Mädchen … Charlie …«
»Was ist passiert?«
»Sie verlor den Verstand.«
»Ohne Witz?«
»Ja. Sie war davon überzeugt, dass sich die Zeit ändert.«
»Die Zeiten ändern sich«, informierte ich ihn. »Hat dir das nicht schon Bob Dylan gesagt?«
»Nicht die Zeit en , Travis. Die Zeit .«
»Versteh ich nicht.«
»Sie bildete sich ein, jeder Tag verkürze sich um dreißig Sekunden. Nach zwei Tagen also wäre es zur gleichen Zeit eine Minute früher. Da fehlen einem echt die Worte, was?«
Ich stieß einen Pfiff aus.
»Sie machte sich große Sorgen deswegen«, fügte Tooey hinzu. Dann lehnte er sich näher zu mir, wie ein Verschwörer. Er starrte über meine Schulter auf irgendetwas. »Hast du unseren Freund dort hinten bemerkt?«
Ich wollte mich umdrehen.
»Mach es unauffällig«, warnte er und glitt zurück hinter seine Theke.
Einen großen Schluck Bier nehmend drehte ich mich beiläufig auf dem Barhocker um.
David Dentman saß allein in einer Ecke der Kneipe und brütete wie ein Raubvogel über einem Krug Bier. Er trug schwarz-rot gemustertes Flanell mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln. Seine Gesichtshaut hing schlaff vom Schädel, und die borstigen Stoppeln an seinem Kinn bedurften einer Rasur. Als er sich beobachtet fühlte, schaute er auf und starrte zurück.
Geschlagen wandte ich mich ab.
Meine Gedanken kehrten zu jenem Abend auf dem Friedhof zurück, als er das Grab seines Neffen so eindringlich betrachtet hatte. Nach allem, was wir herausgefunden hatten, stellte ich fest, dass sich meine Meinung über ihn nicht verändert hatte. Mit ihm stimmte irgendwas nicht.
»Glasgow.« Dentmans Bariton Stimme fuhr mir unter die Haut wie ein eisiger Stachel. »Travis Glasgow. Glasgow, der Schriftsteller.«
Ich schwenkte auf dem Hocker herum. »David«, entgegnete ich mit einem Nicken. Wir mochten wie alte Bekannte anmuten; in gewisser Weise, schätze ich, waren wir es auch.
»Komm her«, forderte er mich auf, »nimm Platz und trink ein Bier mit mir.«
»Danke, aber ich bin mit jemandem verabredet.«
»Sei kein Spielverderber, Hemingway.« Sein Blick hielt mich gebannt, ich konnte mich nicht wegdrehen. Angeschlagen, wie ein Schatten seiner selbst wirkte er – eine leere Hülle.
Außerdem grinste er mich an.
Es kostete einiges an Willenskraft, um aufzustehen und an seinen Tisch zu gehen. Es kam einer Gebirgspassüberquerung gleich. Ein paar Holzfäller unterbrachen ihr Billardspiel und schauten zu mir herüber, während jemand aus der Jukebox beteuerte, seine Braut sei eine ganz heiße Nummer.
Ein einzelner Stuhl gegenüber von Dentman schien geradezu auf mich zu warten. Ohne Worte zog ich ihn näher und ließ mich darauf nieder.
»Wie das Schicksal so spielt«, bemerkte er humorlos.
»Die Runde geht auf mich.«
Dentman beäugte mich als wäre ich ein Erntedank-Truthahn. »Dein Gesicht ist gut verheilt.«
»Sieht nicht besser aus als vorher.« Als ich bemerkte, dass ich meine Wange kratzte, nahm ich rasch die Hand herunter.
»Wie auch immer … ich fasse das als Abschiedsgeschenk auf.«
»Shots«, entschied David. »Bourbon.«
Ich winkte Tooey an unseren Tisch. Er beobachtete mich, seit ich mich hingesetzt hatte. »Bring uns die härteste, übelste Flasche Bourbon, die du hast.«
In weniger als einer Minute kehrte Tooey mit zwei Schnapsgläsern und einer dunklen Karaffe zurück, die bereits Staub angesetzt hatte. Er schraubte den Deckel ab und stellte sie neben die Gläschen auf den Tisch. »Ich hab auch Gläser gebracht, außer ihr wollt das Zeug aus dem Aschenbecher saufen.«
Ich bedankte mich. »Gut so.«
Als er fortging, sah er aus wie jemand, der jederzeit damit rechnete eine Kugel in den Rücken zu bekommen.
Dentman öffnete die Karaffe. Ich dachte schon, sie würde brechen. Beim Füllen der beiden Gläser verschüttete er eine Menge, dann hob er seines an und betrachtete es. »Auf den Weltfrieden.«
Gemeinsam kippten wir einen nach dem anderen. Es schmeckte nach Pisse mit Flüssiganzünder. Ich fühlte, wie sich meine Eingeweide verkrampften.
»Tut mir leid, was geschehen ist«, sagte ich zwischendurch, als der abartige Geschmack nachließ.
»Es braucht dir nicht leidzutun.«
»Lass mich ausreden«, bat ich. »Tut mir leid, was mit deiner Familie geschehen ist, aber ich traue dir immer noch nicht über den Weg.«
»Das ist gut«, antwortete Dentman, »weil ich teilweise immer noch scharf drauf bin, dir dein Gesicht zu zerquetschen.«
»Scheiße. Hätten wir besser mal auf gute Freundschaft getrunken.«
Zu meiner Überraschung brach Dentman in Gelächter aus. Es war ein tiefes Dröhnen, der Sound eines Rasenmähers oder besser noch eines Pick-up-Motors, auch wenn man es als Lachen erkannte. Als sein Lachen erstarb, sprach er: »Ich bin dir wohl, was manches betrifft, meinen Dank schuldig.«
»Warum das?«
Er machte ein Schnalzgeräusch mit der Zunge. »Meine Schwester braucht mich. Jemand muss nach ihr schauen. Es geht ihr nicht gut.«
Ich fragte mich, ob er wusste, dass ich seine Aussage durch die Spiegelwand mitverfolgt hatte.
»Unsere Mutter starb, als wir noch sehr jung waren, bei einem Autounfall. Ich erinnere mich nicht mehr sonderlich deutlich an sie.« Nüchtern sah er mich an – direkt in mich hinein, möchte ich wetten. »Mein Vater war ein schlechter Mensch.« Er schüttelte langsam seinen massigen Kopf, als versuche er, Erinnerungen loszuwerden. »Wie war deiner so?«
Mein Vater war warmherzig und verständnisvoll, obwohl er seine Launen hatte und gereizt wurde, wenn er trank. Vor Kyles Tod hatte er sich als guter Dad erwiesen – ich hasste mich plötzlich, weil ich unfähig war, mich an etwas anderes zu erinnern außer an jenen Tag, da er mich mit seinem Gürtel grün und blau geschlagen hatte.
»Ein ganz normaler Kerl«, sagte ich.
»Unser Vater«, sprach er, und es klang wie ein auswendig gelerntes Gebet, »war geisteskrank, noch bevor er offiziell für verrückt erklärt wurde. Dieser Irre war in der Lage, seine Kinder, als sie noch klein waren, an Bäume im Wald zu fesseln. Wenn du ein Geschirr zerbrichst, kriechst du in den Splittern. Wenn du den Herd schmutzig hinterlässt, bekommst du die heißen Platten zu spüren. Mit deinen Händen. Lange. So lange, bis du deine Lektion gelernt hast.« Er schob das Kinn vor. »Hast du es auch auf die Tour lernen müssen, als du ein Kind warst?«
»Nein, nicht auf diese Weise.«
»Er zwang mich dazu, Dinge zu tun, die kein Erwachsener – vor allem kein Vater – je von einem Kind verlangen sollte. Veronica tat er weit Schlimmeres an. Dinge, die er mit mir nicht machen konnte.«
Dies rief so bestürzende, brutalste Bilder in meinem Kopf hervor, dass mir speiübel wurde. Wie Gift breitete sich dieses Gefühl vom Magen aus und rauschte durch meine Adern. Was für entsetzliche Dinge Veronica in diesem Haus widerfahren sein mussten …
»Als ich alt genug war, brach ich aus, kehrte aber für Veronica wieder zurück. Ich durfte nicht zulassen, dass er … dass er weiterhin … Ich musste wiederkommen. Das Zimmer im Keller? Das hinter der Wand? Er hat es für sie gebaut. Sie fürchtete sich davor, doch er sperrte sie jeden Abend dort ein.«
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