»Kyle«, sagte ich.
Keine Antwort.
Als ich zu mir kam, erhob sich die Sonne gerade über den Bäumen am Friedhof. Sie strahlte mir so perfekt in die Augen, wie es eben nur die Sonne vermochte. Ich fuhr zusammen und drehte den Kopf weg, wobei ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher war, wo ich mich befand. Das Sonnenlicht ließ die Bäume bluten und die schneebedeckten Hügel leuchten wie eine Supernova. In der Ferne sah ich eine Kirche, deren Turm sich gegen den blassen Himmel wie die Spitze einer Meeresschnecke ausmachte.
Als ich mich aufsetzen wollte, wurde mir so schwindlig, dass ich mich fast übergeben musste. Ich versuchte, meinen rechten Arm anzuheben, aber es ging nicht – ich war immer noch an den Zaun gekettet. Mit der freien Hand tastete ich vorsichtig meine Schläfe ab und zuckte zusammen. Die Beule an der Seite meines Schädels fühlte sich wie ein Schaumstoffball an.
Die Ereignisse der vergangenen Nacht strömten zurück in einem erstickenden Wirbelwind. Ich betrachtete meine Linke und fand sie blutverkrustet. In meiner Handfläche klaffte eine beträchtliche Schnittwunde, die ich mir irgendwie im Eifer des Gefechts zugezogen haben musste. Die Fingerspitzen waren blau angelaufen.
Dann realisierte ich, wie heftig ich zitterte. Ich konnte mich weder beruhigen noch auf irgendeine Weise wärmen. Schätzungsweise fünf, sechs Stunden lang lag ich schon hier draußen im Schnee. Mir war schummrig, vermutlich wegen einer leichten Gehirnerschütterung. Das Blut an meiner Hand war über Nacht getrocknet, es zog sich in breiten roten Streifen vom Handgelenk über den Arm in meine Ellbogenbeuge und war schließlich in den Schnee geflossen. Ich sah aus, als hätte ich gerade ein Schwein geschlachtet.
»Fuck …«
Meine eigene Stimme zu hören, schickte Splitter gebrochenen Glases in die graue Substanz meines Gehirns.
Stimmen: Jetzt hörte ich sie von fern, da näherte sich jemand durch die Bäume. Sie waren zu dritt, und als sie näher kamen, erkannte ich, dass es sich um zwei Polizisten handelte; der dritte Mann, so schlussfolgerte ich, war der Friedhofsverwalter.
Die drei blieben wenige Fuß vor mir stehen. Mein Notizblock lag gleich neben einem der schwarz glänzenden Schuhe im Schnee.
»Hey«, sagte der größere Beamte. »Was zur Hölle ist mit Ihnen geschehen?«
»Ich erfriere hier, verdammt«, brachte ich hervor.
Der Verwalter zeigte auf mich. Er war ein kleiner fetter Widerling mit grässlichen Zähnen, ein Charakter, der einem Roman von Dickens entsprungen sein mochte. »Sehen Sie? Seine Hand? Ich sagte doch, er wurde angekettet.«
»Ich h-heiße T-T-Trav –«
»Ich weiß, wer Sie sind.« Der größere Cop war, wie sich herausstellte, Douglas Cordova, der Partner meines Bruders, den ich auf der Weihnachtsfeier kennengelernt hatte. Mit seiner bügelsteifen Uniform, dem kantigen Kinn und seinen jadegrünen Augen wirkte er glatt wie von einem Rekrutierungsposter. »Mach ihn los«, befahl er seinem Begleiter.
Der zweite Officer kniete sich mit einem Bein in den Schnee und nestelte an seinem Gürtel, um einen Schlüssel für die Handschellen zu finden. Er wirkte weniger einschüchternd als Cordova, mit seinen schlaffen, müden Hunde-Zügen, sein praktisch nicht vorhandenes, fliehendes Kinn verlieh dem Profil eine unfertige Note. Freers stand auf seiner Namensplakette.
»Brauchen Sie einen Arzt oder so?« Freers fragte zu dicht an meinem Gesicht. Sein Atem roch nach Zwiebeln.
»Nein.«
»Sie bluten, wissen Sie das?«
Ich warf einen Blick auf meine zerschnittene Hand.
»Ich meinte Ihr Gesicht«, deutete Freers.
Mit weichen Knien erhob ich mich und hielt mich dabei an der dicken Eiche fest. Meine Jeans krachte hörbar, der Stoff war an meinen Beinen festgefroren. Ohne meinen Parka hätte ich die Nacht sicher nicht überlebt.
»Wer hat Ihnen das angetan?«, wollte Cordova wissen. Eine seiner Hände ruhte auf der Schulter des Friedhofwärters und die beiden sahen aus wie schlecht zusammengestellte Football-Spieler, im Begriff die Köpfe zusammenzustecken, um die nächsten Schritte zu besprechen.
»David D-D-Dentman«, stammelte ich.
Cordovas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er wandte sich an seinen Partner: »Okay, bringen wir ihn zum Wagen, bevor er zum Eiszapfen wird.«
Freers stützte meinen Unterarm und führte mich zwischen den Grabsteinen hindurch.
»Warten Sie.« Ich bückte mich kurz nach meinem Block. Ich sah mich um und hoffte, zumindest einige von Earls Beweisfotos wiederzusehen, doch sie waren verschwunden.
»Das da ist Verschmutzung des Friedhofs«, bellte der Wart mit Verweis auf mein Notizbuch. »Für Verschmutzung des Friedhofs ist ein Strafbetrag fällig.«
»Niemand hat irgendetwas verschmutzt«, beschwichtigte Cordova, dessen Hand nach wie vor auf der schmalen Schulter des Mannes lag.
»Ein Strafbetrag ist fällig«, wiederholte er, obwohl sein Ton diesmal weit weniger streng klang.
»Kommen Sie«, forderte Cordova, trat neben mich und drückte mir ein paar Finger über dem Becken ins Kreuz.
»Ich denke, ich schaffe das allein, danke«, erwiderte ich.
»Außerdem haben Sie das Gelände widerrechtlich betreten«, fügte der Verwalter an, als wir über den Kiesweg vom Friedhof zur Straße gingen, wo der Streifenwagen stand. »Widerrechtlich!«
»Hören Sie nicht hin«, flüsterte Cordova nahe meinem Ohr.
Freers öffnete die Tür zum Rücksitz und half mir hinein. »Kopf einziehen.« Dann rief er Cordova übers Dach des Autos hinweg zu: »Dreh die Heizung voll auf für unseren Freund, okay?«
Türen schlugen zu. Cordova rückte seinen stämmigen Körper hinter dem Lenkrad zurecht, während sich Freers auf dem Beifahrersitz zurücklehnte. Als Cordova die Heizung einschaltete, lief mir, obwohl ich halb erfroren war, sprichwörtlich der Schweiß in die Schuhe.
»Alles in Ordnung da hinten, Travis?«, fragte er. »Schon warm?«
Da ich meinen Lippen nicht zutraute, Worte zu bilden, nickte ich schlicht mehrmals Cordovas Augen im Rückspiegel zu.
Mein Schädel wummerte wie eine Calypso-Trommel. Ich sah die Landschaft von Westlake durchs Fenster an mir vorüberziehen, die Einkaufsmeile und die Reihen geweißter zweigeschossiger Wohnhäuser sowie den Verkehr auf den Straßen. An der Waterview Court fuhren wir vorbei.
»Sie haben meine Straße verpasst«, sagte ich durch die Löcher in der Plexiglastrennscheibe.
»Wir bringen Sie nicht nach Hause«, erklärte Cordova.
»Wohin dann?«
Freers beugte sich zur Fahrerseite hin, wobei er mich aus dem Augenwinkel betrachtete. »Vielleicht sollten wir ihn im Krankenhaus checken lassen. Er schlottert wie ein Tamburin.«
»Das können wir hinterher machen«, erwiderte Cordova.
»Ich wollte wissen, wohin Sie mich bringen.«
Cordovas Augen im Rückspiegel funkelten. »Zum Revier. Strohman will sich mit Ihnen unterhalten.«
»Stehe ich unter Arrest?«
»Sollten Sie?«, fragte Freers zurück, drehte sich um und grinste dämlich.
Die Entscheidung war gefallen, ich mochte den Kerl nicht.
Paul Strohmans Büro kam einer kastenförmigen Betonzelle gleich, deren Anstrich der Farbe abgestandenen Bieres entsprach. Weder Fotos noch irgendwelche Dienstauszeichnungen zierten die Wände, und abgesehen von einer übergroßen Kaffeetasse sowie einem Telefon herrschte auf dem schiefen Holzschreibtisch des Polizeichefs Leere. Ein einzelnes Fenster aus drahtverstärktem Glas mit Furnierrahmen, das ungefähr die Maße eines Studentenwörterbuches hatte, befand sich oben an der Wand hinterm Tisch. Ohne den Aufdruck an der geriffelten Türscheibe – Paul J. Strohman, Chief – hätte ich den Raum für ein Verhörzimmer gehalten.
Strohman selbst war ansehnlicher. Großgewachsen und kräftig mit gesund aussehendem Haar sowie gut definierten Zügen. Der Chef der Polizei strahlte auf unbestimmte Weise einen Promi-Status aus. Er trug ein weißes Anzughemd ohne Krawatte, dessen Ärmel fast bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren und dazu eine dunkelgraue Bundfaltenhose. Er saß zurückgelehnt in einem hölzernen Schreibtischstuhl, das Telefon am Ohr, als mich Cordova durch die Tür bugsierte.
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