Er schüttelte den Kopf, als hätte ich ihn enttäuscht. »Sie hat mir von Ihnen erzählt. Sie haben über den Jungen geredet. Sie haben behauptet, ihr das ganze Zeug zurückzugeben, wenn sie wieder zum Haus kommt.«
»Nein, das ist nicht wahr. Ich habe sie nie ins Haus eingeladen.«
»Dann lügt meine kleine Schwester also?«
»Die Straße«, rief ich. »Passen Sie auf.«
Sie zweigte ab. Dentman fuhr rechts, ohne zu blinken, wobei der Wagen fast auf einer Seite abhob. »Was verdammt ist nur los mit Ihnen? Sind Sie pervers, oder was?«
»Das alles ist ein einziges Missverständnis.«
»Was ist mit dem Geschreibsel in dem Notizbuch? Ist das auch alles nur ein Missverständnis?«
»Lassen Sie mich einfach erklären –«
»Ja, klar«, unterbrach David. »Ich verstehe, wie es dazu kommen konnte. Ein Missverständnis, eindeutig.«
»Wohin fahren wir?«
»Was ist denn los?« Er zeigte aufs offene Handschuhfach, wo das Taschenbuch über die herabhängende Klappe rutschte, als er nochmals Gas gab. »Sie schreiben zwar Gruselzeug, aber ich rieche, dass Sie im wirklichen Leben ein Hosenscheißer sind.«
»Halten Sie an.«
»Das macht Sie in meinem Buch zu einem Feigling.«
»David –«
»Sich der Situation nicht zu stellen, den Tatsachen nicht ins Auge zu sehen … das macht einen Schlappschwanz aus.«
»Bleiben Sie stehen. Ich möchte aussteigen.«
»Aussteigen? Jetzt? Ich dachte, Sie wollten alles über meine Familie erfahren. Sie wissen schon … für Ihr Buch.«
»Ich schreibe kein Buch. Das sind – das waren – persönliche Angelegenheiten.«
»Die wiederum meine persönlichen Angelegenheiten betreffen.« Dentman wurde laut. »Die Angelegenheiten meiner Familie .«
»Sagen Sie mir jetzt, wohin wir fahren.«
»Ich werde Sie jemandem vorstellen.«
»Ich will niemandem vorgestellt werden. Lassen Sie mich endlich aus diesem gottverdammten Pick-up aussteigen.«
Vor uns registrierte ich ein schwaches Licht zwischen den Bäumen. Ich schöpfte neue Hoffnung, obwohl ich die Gegend nicht kannte. Zumindest aber gab es hier anscheinend andere Menschen.
Falls Adam einen Beweis dafür brauchte, dass David Dentman ein wahnsinniger Mörder war, genügte es bestimmt, wenn er meinen zerfetzten Körper am folgenden Morgen am Rand dieser Hochstraße durch den Wald entdeckte.
»Muss schon sagen«, fuhr er fort. Das Gaspedal hatte er mittlerweile bis zum Bodenblech durchgetreten. »Sie beschreiben mich ziemlich ausführlich auf den Seiten dort. Nennen mich einen Mörder und so.«
»Das sind nicht Sie.«
»Nicht? Steht mein Name.«
»Wenn Sie zu verdammt blöde sind, um zu kapieren, was ich Ihnen die ganze Zeit versuche zu erklären –«
Die Bremsen des Pick-ups quietschten, als Dentman heftig drauftrat, und das Heck geriet ins Schlingern. Die Fliehkraft schleuderte mich gegen das Armaturenbrett. Irgendwo in meinem Hinterkopf donnerten Kanonen wie zur Feier des Unabhängigkeitstages. Dentman lenkte gegen, bis wir wieder in der Spur fuhren. Dabei schalt er sich leise, beinahe nicht abgebogen zu sein, und drehte das Steuer erneut.
»Sie sind ein beschissener Psychopath«, sagte ich, und zog mich wieder in den Sitz.
Überraschenderweise reagierte Dentman mit einem Lachen darauf. Es klang wie das Gebell von tausend Hunden. »Wissen Sie, was ich glaube?« Er tippte sich an die Schläfe. »Ich glaube Sie sind verblendet und ein Ignorant. Ich glaube, Sie sind ein egoistischer Hurensohn. Wenn man die Nase in anderer Leute Leben steckt, bekommt man irgendwann die Quittung.«
»Fahr zur Hölle.«
»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr Sie ihr zugesetzt haben. Sie wissen nicht, wie schwierig es war, all dies mit ihr durchzustehen. Sie dummer Wichser, Veronica liebte ihren Sohn.«
»Wie steht‘s mit Ihnen? Wie standen Sie zu dem Jungen?«
»Ich werde keine Ihrer gottverdammten Fragen beantworten«, knurrte er. »Und in Ihren Scheißbüchern enden.«
»Sagen Sie mir, was Sie mit ihm gemacht haben.«
Erneut bremste Dentman, diesmal etwas vorsichtiger. Der Pick-up rollte mitten auf der Straße aus. Das Dröhnen des Motors um uns flaute ab, und unser Atem beschlug die Scheiben. Die Häuserlichter, die ich gesehen und auf die ich meine ganze Hoffnung auf Hilfe gesetzt hatte, waren immer noch zu weit weg. Hier hockte ich nun – umringt von Bäumen – allein mit einem Kindermörder im Dunkel der Nacht.
»Steigen Sie aus.« Dentman hauchte die Worte bloß. Seine Augen waren nicht sonderlich groß und standen ein wenig zu weit auseinander, schwelten aber dafür wie zwei Kohlen eingemeißelt in den scharfen Zügen einer Statue. Seine Zähne waren klein mit Abständen dazwischen. Er hatte schmale Lippen, die er im Zorn schürzte.
»War es ein Unfall, oder haben Sie es absichtlich getan?«, stichelte ich, wobei es mir vorkam, als lausche ich den Worten eines anderen. Ich konnte mich nicht zurückhalten. »Kann doch sein, dass Sie es nicht beabsichtigt haben. Vielleicht sind Sie in Panik geraten.«
»Ja«, erwiderte er. »Genau so, wie Sie es in Ihr kleines Notizbuch geschmiert haben. Jetzt raus aus meinem Wagen.«
Ich brauchte keine dritte Aufforderung, ich zog den Türgriff und sprang hinaus auf die vereiste Fahrbahn. Die Fotos von der Suchaktion der Polizei drückte ich zusammen mit dem Block fest an meine Brust. Es war kalt und klamm, aber mein Herz raste und ich schwitzte so stark, dass ich es gar nicht wahrnahm.
Dentman stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Als er ausstieg und vorne um das Vehikel herumging, war ich mir sicher, er werde eine Pistole aus dem Hosenbund ziehen und mich gleich hier am Straßenrand ins Jenseits befördern. Allzu deutlich stellte ich mir vor, wie mein Blut den Schnee tiefrot färbte, während die Bilder, nachdem ich sie losgelassen hatte, wie Steppenläufer den Weg über die verlassene, einspurige Piste bis zur nächsten Stadt fegten.
Er baute sich vor mir auf und packte meinen Oberarm. »Kommen Sie.« Er versuchte, mich an den Straßenrand zu ziehen.
»Wohin gehen wir?«
»Das hier ist es doch, worum es geht, nicht wahr? Der Höhepunkt Ihrer beschissenen Story. Das ist es, auf was Ihre Leser warten, richtig?«
Ich konnte nicht stehen bleiben, denn meine Füße gehorchten mir nicht mehr. Dentman war im Vergleich zu mir ein Riese, und es kam mir vor, als tappe ich neben einem gigantischen Glockenturm aus Stein einher. Er atmete stoßweise und ich spürte seinen Herzschlag über seinen festen Griff um meinen Ellbogen.
»Er war Autist«, hielt ich ihm vor.
David grunzte.
»Ihr Neffe. Er litt doch unter Autismus, nicht wahr?«
»Sie spinnen.«
»Haben Sie ihn deshalb umgebracht – weil er anders war, und Sie ihn nicht verstanden? Womöglich hat er Ihnen auch ein wenig Angst gemacht.«
»Sie wissen nicht, wovon Sie da sprechen.«
»Sie haben vielleicht die Bullen hinters Licht geführt, aber mich –«
Dentman zog meinen Arm zurück, kugelte mir fast die Schulter aus.
Ich strauchelte und verlor beinahe den Notizblock mitsamt den Fotos.
Er hielt mich nach wie vor am Arm fest, schwang mich herum, bis ich ihn unweigerlich anschauen musste. »Kein … Wort … mehr«, stieß er hervor.
Mein Kopf quoll über vor Dingen, die ich sagen könnte, doch keines war hart genug in diesem Moment.
Wir erklommen einen verschneiten Hügel und schlitterten durch ein Wäldchen mit verschlungenen Baumkronen, die den Mond fast gänzlich verdeckten. Ich blieb nur einmal stehen, um mir meines Verhängnisses klar zu werden, doch David schleifte mich weiter und ich stolperte ihm nach. Wir passierten eine lichte Baumgruppe, die sich in eine weite Lichtung öffnete, deren Boden mit Nebel bedeckt war. Ich war überrascht (und erleichtert), Lichter vor uns zu sehen. Wir standen vor einem, früher einmal bestimmt zehn Fuß hohen, Schmiedeeisenzaun. Hinter dem Zaun, halbmondartige Grabsteine, wie Rückenflossen auf dem schwarzen Rasen.
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