Im Laufe der vergangenen fünf Monate, während derer die Selbstmordgedanken immer häufiger zu Besuch gekommen und dann auch immer länger geblieben waren und in ihrem Kauderwelsch geplappert hatten, war Henry so gut wie alle Neugierde vergangen. Jetzt wütete die Neugier, als wäre sie hungrig erwacht. Und er hatte nichts, womit er sie speisen konnte. Hatte Jonesy die Tür zukleben wollen? Ja? Wogegen? Er und der Biber hätten doch wissen müssen, dass das gegen den Pilz nichts ausgerichtet hätte, der einfach unter der Tür durchgewachsen wäre.
Henry schaute ins Badezimmer und ächzte leise auf. Was für ein abscheulicher Wahnsinn sich hier in ihrer Hütte auch immer abgespielt hatte - hier hatte es begonnen, daran hatte er keinerlei Zweifel. Der Raum war eine rote Höhle, die blauen Fliesen fast vollständig unter Haufen von diesem Zeug verborgen. Es war auch am Waschbecken und der Toilettenschüssel hochgewuchert. Der Klodeckel lehnte am Spülkasten, und obwohl er das nicht so genau sehen konnte -dazu war es alles zu überwuchert -, hatte er den Eindruck, dass die Klobrille ins Becken hinein eingebrochen war. Der Duschvorhang war nun dick und rotgolden und nicht mehr auchdünn blau; größtenteils war er von den Ringen geris-sen (an denen auch pflanzliche Barte wuchsen) und lag in der Badewanne.
Seitlich aus der Wanne ragte, ebenfalls von Pilz überwuchert, ein Fuß mit einem Stiefel dran. Der Stiefel war ein Doc Marten's, da war sich Henry sicher. Er hatte Biber wohl endlich doch gefunden. Plötzlich kamen Erinnerungen hoch an den Tag, an dem sie Duddits gerettet hatten, so klar und deutlich, als wäre es gestern gewesen. Biber, wie er seine blöde alte Lederjacke trug, Biber, wie er Duddits' Lunchbox nahm und sagte: Magst du die Serie, Mann? Aber die ziehen sich doch nie um! Und dann, wie er sagte -
»Arschkrass«, sprach Henry zu der überwucherten Hütte. »Das hat er gesagt, das hat er immer gesagt.« Tränen liefen ihm über die Wangen. Wenn der Pilz denn nur Feuchtigkeit suchte - und dem Dschungelgestrüpp in der Toilettenschüssel nach zu urteilen, war er sehr auf Feuchtigkeit aus -, dann konnte er kommen und sich an ihm gütlich tun.
Henry stellte fest, dass es ihm ziemlich egal war. Er hatte Jonesys Gewehr. Der Pilz konnte bei ihm zwar mit der Vorspeise beginnen, aber Henry konnte dafür sorgen, dass er längst fort war, wenn der Pilz beim Dessert ankam. Wenn es denn so weit kommen würde.
Und wahrscheinlich würde es das.
Henry war sicher, in einer Ecke des Schuppens einen Haufen Teppichreste gesehen zu haben. Er überlegte, ob er rausgehen und sie holen sollte. Er konnte sie auf dem Badezimmerboden auslegen und darauf gehen, um so besser in die Badewanne gucken zu können. Aber was sollte das bringen? Er wusste, dass es Biber war, und er hegte kein großes Verlangen, seinen alten Freund, den Schöpfer so geistreicher Sprüche wie Knutsch mir die Kimme zu sehen, wie er von einem roten Pilz überwuchert war. Es hätte vielleicht einige seiner Fragen darüber beantwortet, was hier passiert war, ja, vielleicht. Aber Henry hielt das nicht für wahrscheinlich.
Eigentlich wollte er jetzt nur noch hier raus. Der Pilz war schon unheimlich genug, aber da war noch etwas: das noch unheimlichere Gefühl, hier nicht allein zu sein.
Henry wich von der Badezimmertür zurück. Auf dem Esstisch lag ein Taschenbuch, auf dessen Umschlag kleine Teufel mit Dreizacken Ringelreihen tanzten. Das war bestimmt einer von Jonesys Krimis, und auch darauf wuchs bereits dieses Zeug.
Er hörte ein ratterndes Geräusch, das sich aus westlicher Richtung näherte und schnell zu einem Donnern anwuchs. Hubschrauber, und diesmal nicht nur einer. Viele. Und große. Es hörte sich an, als würden sie auf Dachfirsthöhe ein-fliegen, und Henry duckte sich unwillkürlich. Bilder aus einem Dutzend Vietnamkriegsfilme schwirrten ihm durch den Kopf, und für einen Moment war er sicher, dass sie mit ihren Maschinengewehren das Feuer auf die Hütte eröffnen würden. Vielleicht würden sie sie auch mit Napalm bombardieren.
Sie flogen vorüber und taten weder das eine noch das andere, kamen aber so nah, dass die Tassen und Teller auf den Küchenregalen schepperten. Henry richtete sich wieder auf, als der Donner allmählich verklang und erst in ein Rattern und dann in ein harmloses Brummen überging. Vielleicht flogen sie auch zum Abschlachten der Tiere am Ostende des Jefferson Tract. Sollten sie doch. Er würde hier die Biege machen und dann -Und dann was? Was dann?
Während er über diese Frage nachdachte, kam aus einem der beiden Schlafzimmer im Erdgeschoss ein Geräusch. Ein Rascheln. Dann war wieder alles still, eben lange genug, dass Henry überzeugt war, seine Fantasie habe ihm einen Streich gespielt. Dann ertönte eine Folge leiser Klick- und Schnarr -geräusche, es hörte sich fast wie ein mechanisches Spielzeug an - ein Blech-Affe oder -Papagei etwa -, dessen Uhrwerk eben ablief. Henry bekam schlagartig am ganzen Körper Gänsehaut. Sofort hatte er einen trockenen Mund. Seine Nackenhaare sträubten sich büschelweise.
Raus hier! Lauf!
Ehe er auf diese Stimme hören und sich von ihr leiten lassen konnte, ging er schon mit großen Schritten zur Schlafzimmertür und nahm dabei das Garand von der Schulter. Adrenalin schoss in sein Blut, und er sah alles hell und klar. Seine selektive Wahrnehmung, diese oft verkannte Gabe derer, denen es gut geht, fiel von ihm ab, und er sah alle Einzelheiten: die Blutspur, die vom Schlafzimmer zum Bad verlief, einen hingeworfenen Turnschuh, dieser abartige rote Schimmel, der in der Form eines Handabdrucks an der Wand wuchs. Dann betrat er das Schlafzimmer.
Es - was immer es auch war - war auf dem Bett. Für Henry sah es wie ein Wiesel oder Waldmurmeltier aus, dessen Beine amputiert waren, und aus dem hinten, wie eine Nachgeburt, ein langer, blutiger Schwanz hing. Nur dass kein Tier, das er je gesehen hatte - die Muräne im Seeaquarium von Boston vielleicht ausgenommen - derart unverhältnismäßig große schwarze Augen hatte. Und noch etwas war so ähnlich wie bei der Muräne: Als es den Strich aufriss, der sein Maul war, entblößte es ein Bündel schockierender Zähne, so lang und dünn wie Hutnadeln.
Hinter dem Vieh, pulsierend auf dem blutgetränkten Laken, lagen hundert oder mehr orangebraune Eier. Sie waren so groß wie Murmeln und in einen trüben, rotzeartigen Schleim gehüllt. Und in jedem einzelnen konnte Henry einen sich regenden, haarförmigen Schatten erkennen.
Das Wieselding richtete sich auf wie eine Schlange, die sich aus dem Korb eines Schlangenbeschwörers erhebt, und zischte ihn an. Es rutschte auf dem Bett - auf Jonesys Bett -hin und her, schien sich aber nicht groß bewegen zu können.
Seine glänzenden schwarzen Augen starrten zornig. Sein Schwanz (den Henry beim näheren Hinsehen eher für eine Art Fangarm hielt) schlug hin und her und breitete sich dann über so viele Eier, wie er erreichen konnte, wie um sie zu beschützen.
Henry wurde sich bewusst, dass er immer wieder das eine Wort sagte: Nein, und das in einem monotonen Singsang wie ein hilfloser, mit Thorazin voll gepumpter Neurotiker. Er legte mit dem Gewehr an und zielte auf den widerlichen Knoten, der den Kopf des Viehs bildete und zuckte und auswich. Es weiß, was das hier bedeutet, wenigstens so viel weiß es durchaus, dachte Henry ganz kalt, und dann drückte er ab.
Es war ein Schuss aus nächster Nähe, und das Wesen konnte nicht groß ausweichen; entweder war es vom Eierlegen erschöpft, oder die Kälte bekam ihm nicht - da die Haustür offen stand, war es ziemlich kalt in der Hütte geworden. Der Knall war sehr laut in diesem geschlossenen Raum, und der erhobene Kopf des Viehs zerplatzte klatschend und schlug in Strängen und Klumpen an die Wand. Sein Blut war genauso rotgolden wie der Pilz. Der geköpfte Leib taumelte vom Bett auf einen Kleiderhaufen, den Henry nicht erkannte: ein brauner Mantel, eine orangefarbene Warnweste, eine Jeans mit Aufschlägen (niemand von ihnen hatte je aufgekrempelte Jeans getragen; in der Junior High School wurden Jungs, die so was trugen, als Bauerntrampel abgestempelt). Etliche Eier fielen mit dem Kadaver vom Bett. Die meisten landeten auf den Klamotten und auf Jonesys Bücherhaufen und blieben heil dabei, aber ein paar fielen auch auf den Boden und platzten auf. Eine trübe Substanz, wie verdorbenes Eiweiß, sickerte heraus, knapp ein Esslöffel pro Ei. Und mit ihr diese Haare, die sich krümmten und zuckten und Henry mit ihren schwarzen stecknadelkopfgroßen Augen grimmig anzufunkeln schienen. Als er das sah, war ihm zum Schreien zu Mute.
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