Was willst du denn jetzt tun?, fragte er sich höhnisch. Willst du es wegschnippen, als ob es ein Fussel wäre?
Und genau das tat er, denn es war ein Fussel: ein roter Faden aus dem aufgedruckten Emblem auf dem T-Shirt. Er schnippte ihn weg und sah zu, wie er in den Schnee trudelte. Dann band er sich wieder das T-Shirt um den Riss in seinen Jeans. Für jemanden, der keine vier Stunden zuvor über alle möglichen letzten Optionen nachgedacht hatte - das Seil und die Schlinge, die Badewanne und die Plastiktüte, der Sprung von der Brücke und die allzeit beliebte Flemingway-Lösung, mancherorts auch Polizistenabschied genannt -, hatte er ein, zwei Sekunden lang eine ziemliche Fleidenangst ausgestanden.
Weil ich so nicht enden will, sagte er sich. Ich will nicht bei lebendigem Leibe aufgefressen werden von ...
»Von den Giftpilzen vom Planeten X«, sagte er.
Der Eiermann setzte sich wieder in Bewegung.
8
Die Welt schrumpfte zusammen, wie das immer so ist, wenn man sich der Erschöpfung nähert und die Arbeit noch längst nicht getan ist. Flenrys Leben war auf vier einfache, wiederholte Bewegungen reduziert: das Abstoßen mit den Skistöckern und das Schieben der Skier im Schnee. Seine Schmerzen verflogen, zumindest vorläufig, als er in einen anderen Bereich vordrang. Er konnte sich nur an ein entfernt ähnliches Erlebnis aus seiner High-School-Zeit erinnern, als er Center der Basketballmannschaft der Derry Tigers gewesen war. Bei einem entscheidenden Liga-Spiel hatten es drei ihrer vier besten Spieler zur Hälfte der zweiten Halbzeit geschafft, sich vom Platz stellen zu lassen. Der Trainer hatte Henry für den Rest des Spiels drin gelassen - er kam überhaupt nicht an den Ball, höchstens nach Auszeiten und bei Freiwürfen. Er überstand es, aber als endlich die Schluss-Si-rene ertönte und der Sache ein Ende machte (die Tigers hatten haushoch verloren), hatte er sich gefühlt, als schwebte er in einem schönen Traum. Auf halbem Weg in die Umkleidekabine waren ihm die Beine weggeknickt, und er war mit einem blöden Lächeln im Gesicht zu Boden gegangen, während seine Mannschaftskameraden, die ihre roten Trainingsanzüge trugen, gelacht und gejubelt und geklatscht und gepfiffen hatten.
Hier klatschte oder pfiff niemand; hier war nur aus dem Osten das stete Maschinengewehrfeuer zu hören. Es hatte vielleicht ein wenig nachgelassen, war aber immer noch heftig-
Noch bedrohlicher wirkten gelegentliche Gewehrschüsse aus der Richtung, in die er fuhr. Vielleicht bei Gosselin's? Es war unmöglich festzustellen.
Er hörte sich den Rolling-Stones-Song singen, den er am allerwenigsten mochte, Sympathy for the Devil (Made damn sure that Pilate washed bis hands and sealed His fate. Herzlichen Dank, ihr wart ein wunderbares Publikum, gute Nacht) und zwang sich, damit aufzuhören, als er merkte, dass der Song ganz mit Erinnerungen an Jonesy im Krankenhaus verwoben war, Jonesy, wie er im vergangenen März ausgesehen hatte, nicht nur abgehärmt, sondern irgendwie weniger er selbst, als hätte sich sein Wesen in sich selbst zurückgezogen, um einen Schutzpanzer um den erstaunten, entsetzten Körper zu bilden. Jonesy hatte für Henry wie ein Todeskandidat ausgesehen, und nun wurde Henry klar, dass es um diese Zeit herum mit seinen eigenen Selbstmordabsichten so richtig ernst geworden war. Zu dem Verbrecheralbum der Bilder, die ihn nächtens heimsuchten - blauweiße Milch, die seinem Vater übers Kinn lief, Barry Newmans riesige Pobacken, wie sie schlabberten, als er aus seinem Sprechzimmer floh, Richie Grenadeau, der dem weinenden und fast nackten Duddits Cavell ein Stück Hundekacke hinhielt und ihm befahl, es zu essen - war jetzt das Bild von Jonesys viel zu schmalem Gesicht und seinem benebelten
Blick hinzugekommen, Jonesy, der verunglückt war und allzu bereit aussah, die ganz große Platter zu machen. Sie sagten, sein Zustand wäre stabil, aber Henry hatte eher »kritisch« im Blick seines alten Freundes abgelesen. Mitgefühl mit dem Teufel? Also bitte. Es gab keinen Gott, keinen Teufel, kein Mitgefühl. Und sobald einem das klar wurde, hatte man ein Problem. Dann waren die Tage als geschätzter, zahlender Kunde in diesem großen Vergnügungspark der US-Kultur gezählt.
Er hörte sich wieder singen - But what's puzzling you is the nature ofmy game - und zwang sich, damit aufzuhören. Aber was sonst? Irgendwas völlig Stumpfsinniges. Etwas Stumpfsinniges und Sinnloses, das einem aber nicht mehr aus dem Kopf ging, etwas, das förmlich vor USA troff. Wie wäre es mit diesem Song von den Pointer Sisters? Das wäre doch gut.
Er schaute auf die schlurfenden Skier und die wellige Spur des Schneemobils hinunter und fing an zu singen. Bald wiederholte er es immer wieder, mit tonlosem Flüstern, während er sich die Hemden durchschwitzte und ihm die Rotze aus der Nase lief und auf der Oberlippe gefror: »I know tue can make it, I know we can, ive can work it out, yes we cancan y es we can yes we can ...«
Besser. Schon viel besser. Das ewige Yes we can war ungefähr so amerikanisch wie ein Ford-Pickup auf dem Parkplatz vor einer Bowlingbahn, wie ein Unterwäsche-Ausverkauf bei J. C. Penney oder ein toter Rockstar in der Badewanne.
9
Und so kam er schließlich wieder zu dem Unterstand, an dem er Pete und die Frau zurückgelassen hatte. Pete war fort. Von ihm war nichts mehr zu sehen, rostige Wellblechdach war eingestürzt, aber Henry
hievte es hoch und schaute darunter wie unter eine metallene Bettdecke, um sicherzugehen, dass Pete nicht darunter lag. Er nicht, aber die Frau. Sie war dorthin gekrochen oder bewegt worden, von der Stelle weg, an der sie gelegen hatte, als Henry zur Hütte aufgebrochen war, und irgendwann war sie dann an einem schweren Fall von Tod gestorben. Ihre Kleidung und ihr Gesicht waren von dem rostfarbenen Schimmelpilz überzogen, der sich auch in ihrer Hütte breitgemacht hatte, und Henry fiel etwas Bemerkenswertes auf: Während der Pilz auf ihr gut gedieh (besonders in den Nasenlöchern und an dem einen sichtbaren Auge, wo er förmlich wucherte), ging es dem Pilz, der sich um sie herum ausgebreitet hatte und sie wie ein schartiges Sonnenrad umgab, nicht sonderlich gut. Der Pilz hinter ihr, auf der vom Feuer abgewandten Seite, war grau geworden und nicht weiter gewachsen. Dem Pilz vor ihr ging es ein wenig besser - er hatte Wärme abbekommen, und auf dem Boden, auf dem er wuchs, war der Schnee geschmolzen -, aber die Spitzen der Ranken nahmen die pulverig graue Farbe vulkanischer Asche an.
Henry war sich ziemlich sicher, dass er einging.
Und auch mit dem Tageslicht war es bald vorbei, daran bestand kein Zweifel. Henry ließ das rostige Wellblech auf Becky Shues Leichnam und die noch glühenden Reste des Feuers sinken. Dann betrachtete er wieder die Spur des Schneemobils und wünschte sich, wie schon in der Hütte, er hätte Natty Bumppo dabei, der ihm erklärt hätte, was er da sah. Oder vielleicht Jonesys guten alten Freund Hercule Poirot, den mit den kleinen grauen Zellen.
Die Spur bog zu dem eingestürzten Dach des Unterstands ab und führte dann weiter nach Nordwesten in Richtung Gosselin's. Im Schnee war eine Mulde, die fast nach dem Umriss eines Menschen aussah. Und beiderseits war der Schnee im Halbkreis aufgescharrt.
»Was meinst du, Hercule?«, fragte Henry. »Was bedeutet das, mon ami?« Aber Hercule schwieg.
Henry fing wieder an, monoton vor sich hin zu singen, und schaute sich eine dieser aufgescharrten Stellen etwas genauer an, wobei ihm gar nicht auffiel, dass er von den Pointer Sisters wieder zu den Rolling Stones gewechselt war.
Es war noch hell genug, um das Muster in den drei Vertiefungen links neben dem Menschenumriss zu sehen, und da fiel ihm der Flicken am rechten Ellbogen von Petes Dufflecoat ein. Pete hatte ihm mit merkwürdigem Stolz erzählt, seine Freundin hätte den angenäht und ihm gesagt, er könne doch wohl unmöglich mit einem zerrissenen Mantel auf die Jagd gehen. Henry wusste noch, dass er es gleichwohl traurig wie lustig gefunden hatte, wie Pete aus diesem einen Freundschaftsdienst die schwermütige Fantasie einer glücklichen Zukunft heraufbeschworen hatte ... einem Freundschaftsdienst, der letztlich wahrscheinlich mehr damit zu tun hatte, wie die entsprechende Dame erzogen war, als mit irgendwelchen Gefühlen, die sie für ihren ewig bierseligen Lover hegen mochte.
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