Die Rohleder-Bespannung der Schneeschuhe war von so vielen Mäusen angenagt, dass kaum mehr als leere Rahmen übrig waren. Nach einigem Suchen fand er aber ein kurzes Paar Langlaufski, die aussahen, als hätten sie so um 1954 dem neuesten Stand der Technik entsprochen. Die Bindungen waren verrostet, aber als er mit beiden Daumen drückte, gelang es ihm, dass sie sich zögerlich um die Sohlen seiner Stiefel schlössen.
Aus der Hütte hörte man nun ein stetes Prasseln. Henry legte eine Hand an die Holzwand und spürte die Wärme. Unter dem Dachvorsprung lehnten Skistöcker wirr durcheinander. Ihre Griffe waren mit schmierigen Spinnweben überzogen. Henry sträubte sich, das anzufassen - die Erin-nerung an die Eier und den krabbelnden Wiesellaich war noch zu frisch -, aber er hatte ja schließlich seine Handschuhe an. Er wischte die Spinnweben weg und sah schnell die Skistöcker durch. Jetzt sah er in dem Fenster neben seinem Kopf die Funken stieben.
Er fand ein Paar Skistöcker, das kaum zu kurz für ihn war, und fuhr auf den Skiern unbeholfen zur Ecke des Gebäudes. Mit den alten Skiern an den Füßen und Jonesys Gewehr am Riemen über der Schulter kam er sich vor wie ein Nazi-Gebirgsjäger in einem Alistair-MacLean-Film. Als er sich umdrehte, platzte die Fensterscheibe, neben der er gestanden hatte, mit erstaunlich lautem Knall - so laut, als hätte jemand eine große Glasschüssel aus dem ersten Stock geworfen. Henry duckte sich weg und spürte Glassplitter auf seiner Jacke aufprallen. Etliche landeten in seinem Haar. Ihm ging auf, dass ihm das splitternde Glas das ganze Gesicht zerschnitten hätte, hätte er noch zwanzig oder dreißig Sekunden länger Skistöcker sortiert.
Er schaute zum Himmel, hielt sich die Handrücken wie AI Jolson an die Wangen und rief: »Ich habe da oben wohl einen FreundiJuchu!«
Jetzt schlugen Flammen zum Fenster heraus und loderten unter den Dachvorsprung, und drinnen hörte er weitere Dinge in der sprunghaft ansteigenden Hitze platzen und splittern. Das Camp von Lamar Clarendons Vater, ursprünglich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut, brannte jetzt lichterloh. Das konnte doch einfach alles nur ein Traum sein.
Henry fuhr auf den Skiern in weitem Bogen ums Haus herum und sah zu, wie Funken aus dem Kamin stoben und zu den niedrig hängenden Wolkenbäuchen aufwirbelten. Aus dem Osten scholl immer noch stetes Maschinengewehrrattern. Da schöpften aber einige ihre Quote aus. Mehr als nur das. Dann erklang im Westen eine Explosion - was um Gottes willen war da geschehen? Unmöglich festzustellen.
Wenn er heil bei anderen Menschen ankam, würden sie es ihm vielleicht erzählen.
»Wenn die mich nicht auch einfach umlegen«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein trockenes Krächzen, und da erst merkte er, wie durstig er war. Er bückte sich vorsichtig (er hatte zehn Jahre oder noch länger nicht mehr auf Skiern gestanden), nahm zwei Hände voll Schnee und stopfte ihn sich in den Mund. Er ließ ihn schmelzen und seine Kehle hinabrinnen. Es war ein göttliches Gefühl. Henry Devlin, Psychiater und Verfasser eines Essays über die Hemingway-Lösung, ein Mann, der einst ein unschuldiger Junge gewesen war und jetzt ein großer, plumper Kerl, dem immer die Brille auf die Nasenspitze rutschte, der graue Haare bekam und dessen Freunde entweder tot oder auf der Flucht oder verwandelt waren, dieser Mann stand am offenen Tor zu einer Hütte, zu der er nie zurückkehren würde, stand da auf Skiern, stand da und aß Schnee, wie ein Kind im Zirkus einen Eislutscher aß, stand da und sah zu, wie der letzte richtig angenehme Ort, den er in seinem Leben hatte, niederbrannte. Die Flammen schlugen durch das mit Holzschindeln gedeckte Dach. Schmelzender Schnee verwandelte sich in dampfendes Wasser und lief zischend in die rostigen Dachrinnen. Feuerarme ragten zappelnd aus der Haustür, als wäre das Feuer ein begeisterter Gastgeber, der eben eingetroffenen Gästen zuwinkte, sie sollten sich beeilen, sollten schnell machen und hereinkommen, ehe das Haus ganz abgebrannt war. Die Schicht aus rotgoldenem Flaum, die auf dem Granitblock wuchs, brutzelte vor sich hin, büßte ihre Farbe ein, wurde grau. »Gut«, murmelte Henry. Er ballte rhythmisch die Fäuste um die Griffe der Skistöcker, ohne es zu bemerken. »Gut. Das ist gut.«
So stand er noch eine Viertelstunde da, und dann konnte er es nicht mehr ertragen, kehrte den Flammen den Rücken zu und brach in die Richtung auf, aus der er gekommen war.
Er brachte keine Eile mehr auf. Er hatte zwanzig Meilen vor sich (22,2, um genau zu sein, sagte er sich), und wenn er es nicht etwas langsamer anging, würde er es nie schaffen. Er blieb in der Spur des Schneemobils und hielt häufiger als auf dem Hinweg an, um sich zu verschnaufen.
Ah, aber da war ich ja auch noch jünger, dachte er nur leicht ironisch.
Zweimal sah er auf seine Armbanduhr, da er vergessen hatte, dass es in Jefferson Tract jetzt Punkt irgendwann Eas-tern Standard Time war. Angesichts der dichten Wolkendecke konnte er lediglich mit Sicherheit sagen, dass es noch Tag war. Es war natürlich Nachmittag, aber ob nun Frühoder Spät-, das konnte er unmöglich feststellen. An einem anderen Nachmittag hätte sein Appetit vielleicht als Zeitmaß dienen können, aber nicht heute. Nicht nach dem Ding auf Jonesys Bett und den Eiern und den Haaren mit den vorstehenden schwarzen Augen. Nicht nach dem aus der Badewanne ragenden Fuß. Er fühlte sich, als würde er nie wieder etwas essen wollen ... und wenn doch, dann auf keinen Fall etwas, das auch nur eine Spur rötlich war. Und Pilze? Nein, danke.
Skifahren, zumindest auf kurzen Langlaufskiern wie diesen hier, war ein wenig wie Fahrrad fahren, das stellte er fest: Man verlernte es nicht. Er stürzte einmal, als er den ersten Hügel hochfuhr und die Skier unter ihm wegrutschten, aber die andere Seite glitt er dann in Schwindel erregendem Tempo hinunter, schwankte dabei nur ein wenig, fiel aber nicht hin. Die Skier waren vermutlich zum letzten Mal gewachst worden, als der Erdnussfarmer Präsident war, aber solange er sich in der Spur des Schneemobils hielt, würde es wohl gehen. Er bestaunte die Vielzahl der Tierspuren auf der Deep ^ut Road - in seinem ganzen Leben hatte er nicht mal ein Zehntel dessen gesehen. Ein paar Tiere waren an der Straße entlanggelaufen, aber die meisten Spuren kreuzten sie nur von West nach Ost. Die Deep Cut Road führte in weitem Bogen nach Nordwesten, und der Westen war eine Himmelsrichtung, mit der die einheimische Tierwelt eindeutig nichts zu tun haben wollte.
Ich unternehme eine Reise, sagte er sich. Vielleicht wird eines Tages jemand ein Epos darüber schreiben: Henrys Reise.
»Ja, genau«, sagte er. »Die Welt hing schief, die Zeit gerann, doch nichts hielt auf den Eiermann.« Er lachte darüber, und in seiner ausgetrockneten Kehle verwandelte sich das Gelächter in trockenen Husten. Er hielt am Rand der Schneemobilspur, nahm noch zwei Hände voll Schnee und aß sie.
»Lecker ... und gesund!«, verkündete er. »Schnee! Nicht mehr nur zum Frühstück!«
Er sah zum Himmel, und das war ein Fehler. Für einen Moment packte ihn der Schwindel, und er dachte schon, er würde hintenüber kippen. Dann legte sich das. Die Wolken oben sahen ein bisschen dunkler aus als zuvor. Lag Schnee in der Luft? Oder wurde es schon dunkel? Oder sowohl als auch? Die Knie und Knöchel taten ihm vom Skifahren weh, und die Arme schmerzten sogar noch mehr. Aber am schlimmsten wütete der Schmerz in seiner Brustmuskulatur. Er hatte es längst hingenommen, dass er es nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit zu Gosselin's schaffen würde; jetzt, da er hier stand und wieder Schnee aß, ging ihm auf, dass er es vielleicht gar nicht schaffen würde.
Er löste das Red-Sox-T-Shirt, das er sich ums Bein gebunden hatte, und war starr vor Entsetzen, als er einen leuchtend scharlachroten Faden auf seinen Bluejeans sah. Sein Herz pochte so schnell, dass ihm weiße Flecken vor den Augen tanzten. Mit zitternden Fingern fasste er dorthin.
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