Irgendwo im Westen dröhnte eine mächtige Detonation. Henry schaute lustlos in diese Richtung, konnte aber nichts erkennen. Da war entweder etwas abgestürzt oder explodiert, und wenigstens einige der sonst keine Ruhe gebenden Stimmen in seinem Kopf waren verstummt. Er hatte keine Ahnung, ob es da einen Zusammenhang gab oder nicht und keine Ahnung, ob ihm das gleichgültig sein durfte. Er trat durch das offen stehende Tor und ging über den planierten Schnee, auf dem sich die Spur des davonbrausenden Schnee-mobils abzeichnete, auf ihre Hütte zu.
Der Generator dröhnte gleichmäßig, und über der Granitplatte, die als Fußmatte diente, stand die Tür offen. Henry blieb kurz draußen stehen und betrachtete den Granit. Erst dachte er, eine Blutspur darauf zu sehen, aber Blut, sei es nun frisch oder getrocknet, glänzte nicht so unverkennbar rotgolden. Nein, was er da sah, war irgendwie pflanzlich. Moos oder vielleicht ein Pilz. Und da war noch etwas ...
Henry legte den Kopf in den Nacken und schnupperte -absurderweise hatte er in diesem Moment wieder ganz deutlich vor Augen, wie er einen Monat zuvor mit seiner Ex-Frau bei Maurice's gewesen war und am Wein gerochen hatte, den der Sommelier eben eingeschenkt hatte, und wie er Rhonda dabei angeschaut und gedacht hatte: Wir schnuppern am Wein, und Hunde schnuppern einander am Arsch herum, und es läuft ungefähr aufs Gleiche hinaus. Und dann blitzte die Erinnerung auf, wie seinem Vater die Milch übers
Kinn gelaufen war. Er hatte Rhonda zugelächelt, und sie hatte sein Lächeln erwidert, und er hatte gedacht, was für eine Erleichterung das Ende sein würde und dass er es am besten schnell hinter sich brachte.
Doch jetzt roch er keinen Wein, sondern einen sumpfigen, schwefligen Gestank. Für einen Moment konnte er ihn nicht einordnen, und dann fiel es ihm wieder ein: die Frau, die den Unfall verursacht hatte. Auch hier stank es nach ihren verdorbenen Innereien.
Henry betrat die Granitplatte und war sich bewusst, dass er zum letzten Mal hier war. Er spürte die Last all der Jahre -das Gelächter, die Gespräche, die Biere, ab und zu auch mal einen schönen Joint, die Wurfschlacht mit Lebensmitteln von Anno '96 (vielleicht war es auch '97 gewesen), die Gewehrschüsse, diese bittere Geruchsmischung aus Schießpulver und Blut, die die Jagdsaison für Hirsche verhieß, der Geruch von Tod und Freundschaft und der Freuden der Kindheit.
Und als er dort so stand, schnupperte er noch mal. Der Gestank war jetzt viel stärker und wirkte eher chemisch als organisch, vielleicht weil er so übermächtig war. Er schaute in die Hütte. Auf dem Boden war noch mehr von diesem fussligen, schimmelartigen Zeug, aber die Dielen konnte man noch sehen. Auf dem Navajo-Teppich aber wuchs es bereits so dicht, dass man kaum mehr das Teppichmuster erkannte. Was es auch war - es gedieh im Warmen eindeutig besser, und es war unheimlich, wie schnell es wuchs.
Henry wollte eben hineingehen, überlegte es sich dann aber anders. Er ging zwei, drei Schritte von der Tür zurück und stand dann dort im Schnee und dachte an seine blutende Nase und an die Löcher in seinem Zahnfleisch, wo noch Zähne gewesen waren, als er an diesem Morgen erwacht war. Wenn von diesem moosartigen Zeug ein durch die Luft übertragbarer Virus ausging, wie Ebola oder Hanta, hatte er sich wahrscheinlich längst angesteckt und konnte jetzt nur noch die Stalltür schließen, nachdem das Pferd gestohlen war. Aber es war ja nicht nötig, unnötige Risiken einzugehen, nicht wahr?
Er machte kehrt und ging um die Hütte herum zur Schlucht-Seite. Dabei hielt er sich in der Spur des Schneemo-bils, um nicht im Neuschnee einzusinken.
Die Schuppentür stand ebenfalls offen. Und Henry konnte Jonesy sehen, ja, ganz klar und deutlich, wie Jonesy kurz an der Tür stehen blieb, ehe er hineinging, um das Schneemobil zu holen; wie sich Jonesy im Vorbeigehen am Türrahmen festhielt, wie Jonesy lauschte ... worauf lauschte?
Es war nichts zu hören. Keine Krähen krächzten, keine Eichelhäher schimpften, keine Spechte hämmerten, keine Eichhörnchen keckerten. Man hörte nur den Wind und hin und wieder ein gedämpftes Wopp, wenn ein Schneeballen von einer Kiefer oder Fichte rutschte und unten auf dem Neuschnee landete. Die einheimische Tierwelt war verschwunden, war fortgezogen wie die blöden Viecher in einem Cartoon von Gary Larson.
Er blieb dort für einen Moment stehen und rief sich das Innere des Schuppens ins Gedächtnis. Pete hätte das besser gekonnt - Pete hätte mit geschlossenen Augen und pendelndem Zeigefinger dagestanden und einem dann gesagt, wo alles war, bis zur kleinsten Schale mit Schrauben -, aber in diesem Fall glaubte Henry, ohne Petes besondere Gabe auszukommen. Er war gerade am Vortag erst hier draußen gewesen und hatte etwas gesucht, womit er die Küchenschranktür öffnen konnte, die sich verzogen hatte. Da hatte er gesehen, wonach er jetzt suchte.
Henry atmete mehrfach schnell ein und aus, hyperventi-lierte seine Lunge sauber, hielt sich dann die Hand vor Mund und Nase und ging hinein. Für einen Moment stand er nur da und wartete darauf, dass sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Wenn es sich vermeiden ließ, wollte er sich von nichts überraschen lassen.
Als er gut sehen konnte, ging Henry über die freie Stelle, an der das Schneemobil gestanden hatte. Auf dem Boden befand sich nur noch ein mehrschichtiges Muster aus Ölflecken, aber auf der grünen Plane, mit der das Arctic Cat abgedeckt war und die nun in der Ecke lag, wuchs jetzt ebenfalls das rötlich goldene Zeug.
Die Werkbank war ein einziges Chaos: Eine Schale mit Nägeln und eine mit Schrauben waren ausgekippt worden, sodass alles, was sorgsam sortiert war, nun durcheinander lag, ein alter Pfeifenständer, der Lamar Clarendon gehört hatte, lag zerbrochen am Boden, und sämtliche Schubladen, die in die Werkbank eingebaut waren, waren aufgerissen. Einer der beiden, Biber oder Jonesy, war wie ein Wirbelwind durch den Schuppen gerast und hatte etwas gesucht.
Das war Jonesy.
Ja. Henry würde vielleicht nie erfahren, was er gesucht hatte, aber es war Jonesy gewesen, das wusste er, und es war eindeutig sehr dringend gewesen. Henry fragte sich, ob Jonesy es gefunden hatte. Auch das würde er wahrscheinlich nie erfahren. Was er selber aber suchte, war am anderen Ende des Raums deutlich zu sehen, hing dort an einem Nagel über einem Stapel Farbdosen und Spritzpistolen.
Immer noch mit der Hand vor Mund und Nase und mit angehaltenem Atem ging Henry quer durch den Schuppen. Dort hingen mindestens vier dieser kleinen Heimwerker-Atemmasken, die man sich über Mund und Nase zog, an ausgeleierten Gummibändern. Er nahm sie alle, und als er sich umdrehte, sah er, wie sich an der Tür etwas bewegte. Er konnte sich eben noch davon abhalten, überrascht nach Luft zu schnappen, aber sein Herz machte einen Satz, und ganz plötzlich kam ihm die Luft in seiner Lunge, die ihn bis hierher gebracht hatte, zu warm und schwer vor. Aber da war nichts; das hatte er sich bloß eingebildet. Dann sah er, dass dort doch etwas war. Licht kam zur offen stehenden Tür herein, ein wenig Licht fiel auch durch das einzige schmutzige Fenster über der Werkbank, und Henry hatte sich buchstäblich vor seinem eigenen Schatten erschreckt.
Er verließ den Schuppen mit vier großen Schritten, die Atemmasken in der rechten Hand. Er hielt noch die Luft an, bis er auf der Schneemobilspur weitere vier Schritte zurückgelegt hatte, und stieß sie dann aus. Er beugte sich vor, stützte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und hatte kleine schwarze Punkte vor den Augen, die sich aber bald auflösten.
Aus dem Osten kam ferner Schusslärm. Es waren keine Gewehrschüsse; dafür waren sie zu laut und folgten zu schnell aufeinander. Das waren automatische Waffen. Henry hatte eine Vision vor Augen, so deutlich wie die Erinnerung an die Milch, die seinem Vater übers Kinn gelaufen war, und die an Barry Newman, wie er in Windeseile aus seinem Sprechzimmer geflohen war. Er sah, wie die Hirsche und Waschbären und Waldmurmeltiere und Hasen und verwilderten Hunde zu Dutzenden und Hunderten niedergemäht wurden, während sie versuchten, dem zu entfliehen, was nun eindeutig ein Seuchengebiet war; er sah, wie sich der Schnee von ihrem unschuldigen (aber möglicherweise verseuchten) Blut rot färbte. Diese Vision schmerzte ihn unerwartet heftig, drang zu einer Stelle vor, die nicht tot, sondern nur betäubt war. Es war die Stelle, die so stark auf Dud-dits' Weinen angesprochen hatte, das Weinen, das ihm fast den Kopf platzen ließ.
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