»Krebs, Jungs. Sie sind Krebs. Besser kann ich es nicht ausdrücken, und ihr wisst ja, ich bin kein großer Redner. Owen, haben Sie verstanden?«
»Verstanden, Boss.« Ganz nüchtern. Nüchtern und ruhig, der Scheißkerl. Na, sollte er doch cool sein. Sollte er doch cool sein, solange er noch konnte. Mit Owen Underhill war es sowieso zu Ende. Kurtz hob den Papierhut und betrachtete ihn bewundernd. Owen Underhill war erledigt.
»Was ist da unten, Owen? Was regt sich da rund ums Schiff? Was hat vergessen, sich Hosen und Schuhe anzuziehen, ehe es heute Morgen aus dem Haus gegangen ist?«
»Der Krebs, Boss.«
»Genau. Jetzt geben Sie den Befehl, und dann schlagen wir los. Ich will was hören, Owen.« Und da er wusste, dass die Männer in den Kampfhubschraubern ihn beobachteten (noch nie hatte er eine solche Predigt gehalten, noch nie, und kein Wort davon war vorformuliert, höchstens in seinen Träumen), drehte er ganz bewusst seine eigene Mütze nach hinten.
Owen sah, wie Tony Edwards seine Mets-Kappe umdrehte, sodass ihm der Schirm in den Nacken hing, und hörte Bry-son und Bertinelli die 50er durchladen, und da wurde ihm klar, dass es jetzt wirklich losging. Jetzt schlugen sie los. Entweder stieg er ins Auto ein und fuhr mit, oder er blieb auf der Straße stehen und wurde überfahren. Das war die einzige Wahl, die Kurtz ihm gelassen hatte.
Und da war noch etwas, eine unangenehme Erinnerung aus der Zeit, als er - wie alt? Acht? Sieben? Vielleicht sogar noch jünger gewesen war. Er war draußen auf dem Rasen ihres Hauses gewesen, dem Haus in Paducah, und sein Vater war noch bei der Arbeit und seine Mutter auch irgendwo, wahrscheinlich in der Grace Baptist, wo sie einen der unzähligen Kirchenbasare vorbereitete (und im Gegensatz zu Kurtz meinte Randi Underhill es auch so, wenn sie »gelobt sei der Herr« sagte), und nebenan bei den Rapeloews war ein Krankenwagen vorgefahren. Ohne Sirenen, aber mit jeder Menge Blaulicht. Zwei Männer in Overalls, ganz ähnlich wie der, den Owen jetzt trug, waren die Einfahrt der Rapeloews hochgelaufen und hatten dabei, ohne aus dem Schritt zu kommen, eine schimmernde Bahre ausgeklappt. Es war wie ein Zaubertrick.
Keine zehn Minuten später kamen sie mit Mrs. Rapeloew auf der Bahre wieder raus. Sie hatte die Augen geschlossen. Mr. Rapeloew folgte ihnen und vergaß ganz, hinter sich die Haustür zu schließen. Mr. Rapeloew, der ungefähr so alt war wie Owens Daddy, sah mit einem Mal so alt aus wie ein Opa. Das war noch so ein Zaubertrick. Mr. Rapeloew schaute nach rechts, als die Männer seine Frau in den Krankenwagen luden, und sah Owen, der da in kurzer Hose auf dem Rasen kniete und mit seinem Ball spielte. Sie sagen, es war ein Schlag!, rief Mr. Rapeloew. St. Mary's Memorial! Sag das deiner Mutter, Owen! Und dann stieg er hinten in den Krankenwagen, und der Krankenwagen fuhr davon. Vielleicht fünf Minuten lang spielte Owen weiter mit seinem Ball, warf ihn hoch und fing ihn auf, und zwischendurch schaute er immer mal wieder zu der Tür hinüber, die Mr. Rapeloew hatte offen stehen lassen, und dachte, er sollte sie zumachen. Sie zu schließen, wäre das gewesen, was seine Mutter immer einen Akt christlicher Nächstenliebe nannte.
Schließlich stand er auf und ging hinüber in den Garten der Rapeloews. Die Rapeloews waren immer gut zu ihm gewesen. Nichts Besonderes (»Nichts weswegen man mitten in der Nacht aufstehen und einen Brief nach Hause schreiben würde«, wie seine Mutter gesagt hätte) aber Mrs. Rapeloew buk immer viele Kekse und vergaß nie, ihm welche aufzuheben; und viele, viele Schalen Zuckerguss und Keksteig hatte er m der Küche der pummeligen, immer gut gelaunten Mrs.
Rapeloew schon ausgekratzt. Und Mr. Rapeloew hatte ihm beigebracht, Papierflieger zu falten, die tatsächlich flogen. Sogar drei unterschiedliche Modelle. Also hatten die Rape-loews Nächstenliebe, christliche Nächstenliebe verdient, aber als er durch die offen stehende Tür ihr Haus betrat, wusste er nur zu gut, dass er nicht aus christlicher Nächstenliebe dort war. Von christlicher Nächstenliebe kriegte man keinen steifen Schniedel.
Fünf Minuten lang - oder vielleicht war es auch eine Vierteloder eine halbe Stunde gewesen, die Zeit verging wie im Traum - war Owen einfach nur durch das Haus der Rape-loews gewandert, ohne weiter irgendwas zu tun, und die ganze Zeit über war sein Schniedel hart wie Stein gewesen, so hart, dass er wie ein zweiter Herzschlag pochte, und er hätte gedacht, dass so etwas wehtut, aber das hatte es nicht, nein, es hatte sich schön angefühlt, und viele Jahre später erkannte er in diesem schweigenden Umherwandern das, was es in Wirklichkeit gewesen war: Vorspiel. Dass er nichts gegen die Rapeloews hatte, dass er die Rapeloews eigentlich sogar mochte, machte es irgendwie nur noch schöner. Hätte man ihn dabei erwischt (dazu kam es nicht) und gefragt, warum er das getan hatte, dann hätte er ganz ehrlich sagen können: Ich weiß es nicht.
Nicht dass er viel angestellt hatte. Im Badezimmer im Erdgeschoss entdeckte er eine Zahnbürste mit dem Aufdruck dick. Dick war Mr. Rapeloews Vorname. Owen versuchte auf die Borsten von Mr. Rapeloews Zahnbürste zu pinkeln, aber sein Schniedel war zu steif, und es kam einfach keine Pisse, kein einziger Tropfen. Also spuckte er stattdessen auf die Borsten, rieb die Spucke ein und stellte die Zahnbürste dann wieder in das Zahnputzglas. In der Küche goss er ein Glas Wasser auf die Herdplatten des Elektroherds. Dann nahm er eine große Porzellanplatte aus der Anrichte. »Sie sagen, es war der Storch«, sagte Owen und hielt sich die Platte über den Kopf. »Es muss ein Baby sein, denn er hat gesagt, es war ein Storch.« Und dann schmetterte er die Platte in die Ecke, wo sie in tausend Scherben zersprang. Gleich anschließend rannte er aus dem Haus. Was auch immer da in ihn gefahren war, was seinen Schniedel steif gemacht und bewirkt hatte, dass sich seine Augäpfel zu groß für die Augenhöhlen angefühlt hatten - mit dem klirrenden Bersten der Platte war es wie weggeblasen, das hatte es platzen lassen wie einen Pickel, und hätten sich seine Eltern nicht solche Sorgen um Mrs. Rapeloew gemacht, dann wäre ihnen bestimmt aufgefallen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Aber wie es sich traf, nahmen sie wahrscheinlich an, dass er sich ebenfalls Sorgen um Mrs. R. machte. Gut eine Woche lang schlief er wenig, und wenn er doch einmal einschlief, hatte er Albträume. In einem dieser Träume kam Mrs. Rapeloew aus dem Krankenhaus mit dem Baby nach Hause, das der Storch ihr gebracht hatte, aber das Baby war schwarz und tot. Owen war vor Scham und Gewissensbissen fast vergangen (es ging aber nie so weit, dass er es gestanden hätte; was in Gottes Namen hätte er denn auch sagen sollen, wenn ihn seine baptistische Mutter gefragt hätte, was da in ihn gefahren sei), und doch vergaß er nie das sinnlose Vergnügen, mit heruntergelassener Unterhose in dem Badezimmer zu stehen und zu versuchen, auf Mr. Rapeloews Zahnbürste zu pinkeln, und auch die Erregung nicht, die in ihm aufgebrandet war, als die Porzellanplatte zerschellte. Wäre er älter gewesen, dann hätte er sich bestimmt in die Hose ergossen, vermutete er später. Die Reinheit lag in der Sinnlosigkeit begründet; die Freude im lauten Geschepper; und anschließend folgte dann das ausführliche, sehr genüssliche Schwelgen in Reue und nachträglicher Angst, dabei erwischt zu werden. Mr. Rapeloew hatte gesagt, es sei der Storch gewesen, aber als Owens Vater an diesem Abend nach Hause kam, sagte er ihm, dass es ein Schlag gewesen sei. Ein Blutgefäß in Mrs. Rapeloews Gehirn sei geplatzt, und das sei ein Schlaganfall.
Und jetzt war das alles wieder da.
Vielleicht komme ich ja diesmal, dachte er. Das wird auf jeden Fall eine Nummer größer als der Versuch, auf Mr. Rapeloews Zahnbürste zu pinkeln. Und dann, als auch er sich die Mütze umdrehte: Aber es läuft im Grunde aufs Gleiche hinaus.
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