Adolph Knipe fuhr mit dem Bus nach Hause. In seiner Zweizimmerwohnung warf er den Mantel auf das Sofa, goss sich einen Whisky ein und setzte sich vor die Schreibmaschine, die auf dem Tisch stand. Mr. Bohlen hatte recht. Natürlich hatte er recht. Nur dass er keine Ahnung hatte, was wirklich los war. Vermutlich dachte er, dass eine Frau im Spiel sei. Wenn ein junger Mann bedrückt ist, denkt jeder, es sei wegen einer Frau.
Er beugte sich vor, um das halb beschriebene Blatt durchzulesen, das in der Maschine steckte. Die Überschrift lautete: «Mit knapper Not entkommen», und der Text fing an: «Die Nacht war dunkel und stürmisch, der Wind pfiff durch die Bäume, es regnete in Strömen …»
Adolph Knipe trank einen Schluck Whisky, kostete den malzig-bitteren Geschmack aus, fühlte, wie ihm die kalte Flüssigkeit die Kehle hinunterrann und sich im oberen Teil des Magens sammelte, bevor sie sich ausbreitete und eine kleine warme Zone in seinem Innern erzeugte. Ach, zum Teufel mit Mr. John Bohlen. Zum Teufel mit dem großartigen Elektronengehirn. Zum Teufel mit …
Seine Augen und sein Mund öffneten sich langsam, wie in höchster Verwunderung. Langsam hob er den Kopf, und so blieb er vierzig, fünfzig, sechzig Sekunden regungslos sitzen, während er mit einem geradezu ungläubig erstaunten, dabei aber ganz festen, gleichsam gesammelten Blick auf die gegenüberliegende Wand starrte. Dann (ohne dass er den Kopf bewegt hätte) veränderte sich allmählich der Ausdruck seines Gesichts, kaum merklich zunächst, nur an den Mundwinkeln sichtbar, bald jedoch immer ausgeprägter, immer umfassender, bis schließlich das ganze Gesicht von äußerstem Entzücken überstrahlt war. Das Staunen hatte der Freude Platz gemacht. Es war das erste Mal seit vielen, vielen Monaten, dass Adolph Knipe lächelte.
«Natürlich ist es völlig idiotisch», sagte er laut. Wieder lächelte er und entblößte dabei auf eine seltsam sinnliche Weise die Zähne.
«Eine wunderbare Idee, aber so undurchführbar, dass es sich wirklich nicht lohnt, darüber nachzudenken.»
Von nun an dachte Adolph Knipe über nichts anderes mehr nach. Die Idee faszinierte ihn ungemein, anfangs nur deswegen, weil er sich ausmalte, wie schön es wäre, mit ihrer Hilfe an seinen schlimmsten Feinden teuflische Rache zu nehmen. Unter diesem Gesichtspunkt spielte er vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten mit ihr; dann ertappte er sich plötzlich dabei, dass er sie allen Ernstes als praktische Möglichkeit in Betracht zog. Er machte sich ein paar vorbereitende Notizen auf einem Blatt Papier. Aber er kam nicht weit. Er fand sich fast sofort mit der altbekannten Tatsache konfrontiert, dass eine Maschine, so hochentwickelt sie auch sein mag, nicht selbständig denken kann. Sie kann nur Aufgaben lösen, die sich in mathematischen Begriffen ausdrücken lassen – Aufgaben, deren Lösung ein für allemal feststeht.
Das war eine harte Nuss. Er kam nicht darum herum: Eine Maschine hat keinen Verstand. Aber es gibt Maschinen, die ein Gedächtnis haben, nicht wahr? Das Elektronengehirn der Electrical Engineering Inc. zum Beispiel hatte ein phantastisches Gedächtnis. Es konnte, einfach indem es elektrische Impulse durch eine Quecksilbersäule in hochfrequente Wellen verwandelte, mindestens tausend Zahlen auf einmal speichern und jede von ihnen genau in dem Augenblick abrufen, in dem sie gebraucht wurde. Sollte es also nicht möglich sein, nach diesem Prinzip ein Wort-Speicherwerk von nahezu unbegrenztem Fassungsvermögen zu bauen?
Wie stand es damit?
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, eine simple, aber überwältigende Wahrheit: Die englische Grammatik ist Regeln unterworfen, die in ihrer Strenge fast mathematisch sind! Wenn die Wörter feststehen, wenn der Sinn dessen, was gesagt werden soll, feststeht, gibt es nur eine mögliche Reihenfolge, in der diese Wörter angeordnet werden können.
Nein, dachte er, das stimmt nicht ganz. Sehr oft gibt es für die Stellung von Wörtern und Satzteilen mehrere Möglichkeiten, die alle grammatisch korrekt sind. Na wennschon! An der Theorie selbst ist nicht zu rütteln. Folglich muss sich eine Maschine, die nach dem Prinzip des Elektronengehirns gebaut ist, so einrichten lassen, dass sie Wörter (statt Zahlen) den grammatischen Regeln entsprechend anordnet. Füttere sie mit Verben, Substantiven, Adjektiven, Pronomen, sodass sich im Speicherwerk ein Wortschatz bildet, und sorge dafür, dass diese Wörter je nach Bedarf abgerufen werden können. Gib ihr dann noch ein Handlungsgerüst und überlass es ihr, die Sätze zu schreiben.
Knipe war jetzt nicht mehr zu halten. Er machte sich unverzüglich ans Werk, und die nächsten Tage waren mit intensiver Arbeit ausgefüllt. Überall im Wohnzimmer lagen Papiere verstreut: Formeln und Berechnungen; Listen mit Wörtern, Tausenden und aber Tausenden von Wörtern; Handlungsgerüste von Kurzgeschichten, auf eigenartige Weise in Fragmente zerlegt; lange Auszüge aus Rogets Thesaurus ; Seiten und Seiten mit männlichen und weiblichen Vornamen; Abschriften von Familiennamen aus dem Telefonbuch; komplizierte Zeichnungen von Leitungsdrähten, Stromkreisen, Schaltern und Kathodenröhren, von Maschinen, die unterschiedlich geformte Löcher in kleine Karten stanzen konnten, von einer elektrischen Schreibmaschine, deren Leistung sich auf zehntausend Wörter in der Minute belief, und von einer Art Schaltbrett mit kleinen Tasten, unter denen die Namen bekannter amerikanischer Magazine standen.
Er arbeitete in Hochstimmung, ging inmitten dieses Wirrwarrs von Papieren auf und ab, rieb sich die Hände und führte laute Selbstgespräche. Manchmal rümpfte er angewidert die Nase und stieß wilde Verwünschungen aus, in denen unweigerlich das Wort ‹Redakteur› vorkam. Nach fünfzehn Tagen rastloser Arbeit packte er sämtliche Papiere in zwei große Mappen, mit denen er sich – beinahe im Laufschritt – in das Büro von John Bohlen, Electrical Engineering Inc. , begab.
Mr. Bohlen freute sich sehr, ihn wiederzusehen.
«Hallo, Knipe. Na, Sie sehen ja hundert Prozent besser aus. War’s schön im Urlaub? Wo sind Sie denn gewesen?»
Unverändert hässlich und schlampig, dachte Mr. Bohlen. Warum steht er nicht gerade? Immer dieser krumme Rücken … «Wirklich, Sie sehen hundert Prozent besser aus, mein Junge.» Möchte bloß wissen, warum er so grinst. Und seine Ohren scheinen von Mal zu Mal größer zu werden.
Adolph Knipe legte die Mappen auf den Schreibtisch.
«Hier, Mr. Bohlen!», rief er. «Sehen Sie sich das an!»
Und nun ging es los. Er öffnete die Mappen, breitete die Pläne vor dem erstaunten kleinen Mann aus, berichtete, erzählte, erklärte, bis er endlich, nach einer guten Stunde, fertig war. Atemlos, mit gerötetem Gesicht trat er einen Schritt zurück und wartete auf das Urteil.
«Wissen Sie was, Knipe? Ich glaube, Sie haben nicht alle Tassen im Schrank.» Sei vorsichtig jetzt, ermahnte sich Mr. Bohlen. Fass ihn behutsam an. Der Bursche ist wertvoll für uns. Wenn er nur nicht so grässlich aussähe mit diesem Pferdegesicht und den großen Zähnen. Und Ohren hat er – wie Rhabarberblätter.
«Aber Mr. Bohlen! Es geht! Ich hab’s Ihnen doch bewiesen! Das können Sie nicht abstreiten!»
«Immer mit der Ruhe, Knipe. Immer mit der Ruhe. Hören Sie mir erst mal zu.»
Adolph Knipe sah seinen Chef an und verabscheute ihn mit jeder Sekunde mehr.
«Diese Idee», sagte Mr. Bohlens Unterlippe, «ist sehr gescheit – ich möchte beinahe sagen genial –, und sie bestätigt nur meine hohe Meinung von Ihren Fähigkeiten, Knipe. Aber Sie dürfen das alles nicht zu ernst nehmen, mein Junge. Was kann uns Ihre Erfindung schon nützen? Wer in aller Welt braucht eine Maschine, die Kurzgeschichten schreibt? Und wo steckt da Geld drin? Können Sie mir das sagen?»
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