Die Handschellen hatten ihr nicht gepasst, also hatte Drake sie mit einem Stück Kette an der Wand festgemacht. Die Kettenglieder rasselten jedes Mal, wenn sich die Kleine bewegte, um auf den kalten Bodenfliesen eine bequemere Sitzposition zu finden.
Drake legte den Kopf schräg und schnupperte, um ihren Geruch zu inhalieren, aber mehr aus Neugier als vor Hunger. Noch nie war er einem Kind so nah gewesen, ohne dass er es gegessen hätte. Das Mädchen war so zierlich, mit zarten Gesichtszügen und goldenen Locken, die zu einem Engel gepasst hätten und die ihr in einer vollen Welle auf die Schultern fielen. Arme und Beine wirkten so bemitleidenswert dünn, dass er keine Muskeln erkennen konnte, und ihr Hals war so schlank wie der eines Vogels. An ihr war praktisch nichts.
Drake konnte sich nicht vorstellen, wie so ein winziges Leben ohne fremde Hilfe überleben konnte. Und doch hatte diese kleine Kreatur sich heftiger zur Wehr gesetzt als die drei Erwachsenen, bis es ihm endlich gelungen war, sie zu schnappen. Gedankenverloren kratzte Drake an seinen Fingerknöcheln, obwohl die langen roten Striemen, die Zoe in seine Haut gerissen hatten, kaum verheilt waren.
Sie war ein freches kleines Ding. Das gefiel ihm.
Einen Moment lang sah er das Mädchen einfach nur an.
Sie hielt seinem Blick stand, das kleine Kinn hatte sie trotzig vorgeschoben, auch wenn ihre Unterlippe unübersehbar zitterte.
Es half nichts, Drake musste es herausfinden. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte er.
„Du bist der König der Gnome“, antwortete sie prompt.
„Der König der Gnome?“ Drake lächelte. „Das gefällt mir.“
Er dachte einen Moment lang nach, dann beugte er sich neugierig vor. „Sag, mein Kind. Möchtest du sterben?“
Zoe hatte Angst, zeigte sich aber so mutig, wie es ihre Mutter ihr beigebracht hatte. „Ich habe keine Angst. Ich komme in den Himmel.“
Drake begann zu lachen, jedoch klang Verbitterung darin mit.
„Es gibt keinen Himmel“, erklärte er Zoe. „Kein Gott, keine Engel. Kein Happy End für brave kleine Mädchen.“ Er kam wieder ein Stück näher. „Das Einzige, worauf du dich freuen kannst, ist das Nichts.“
Während Drake sprach, weiteten sich seine Pupillen so sehr, dass sie sogar das Weiße in seinen Augen verschwinden ließen. Zoe starrte ihn an, unfähig, den Blick von ihm abzuwenden. Die Augen des Mannes schienen immer größer zu werden, und sie bekam das Gefühl, gegen ihren Willen immer stärker von ihm angezogen zu werden. Es war so, als würde ihr Gehirn in den flüssigen Strömen seines Banns schwimmen. Sie bohrte ihre Fingernägel in die Handflächen, um gegen das Gefühl anzukämpfen. Was es war, wusste sie nicht, doch ihr war klar, dass es ihr überhaupt nicht gefiel.
Dann redete Drake mit sanfter und sonorer Stimme weiter. „Aber was wäre, wenn du das ändern könntest?“, fragte er. „Was wäre, wenn du immer Kind bleiben könntest?“ Er strich mit einem seiner langen Fingernägel über die zarte Wange von Zoe. „Stell dir vor, du könntest immer dieses kleine Puppengesicht behalten, bis die Sonne längst zu einem Felsbrocken erkaltet ist.“ Er sah ihr tief in die Augen. „Würde dir das nicht gefallen? Würdest du dieses Geschenk haben wollen?“
Zoe blinzelte, dann streckte sie eine Hand aus und berührte ihrerseits Drakes Wange. „Meine Freunde kommen, um dich zu töten.“
Drei Zimmer weiter sackte King rückwärts gegen die Säule, Blut lief ihm aus der Nase und dem Mund. Er blinzelte, um sich von den Tropfen der klebrigen roten Flüssigkeit zu befreien, die ihm ins Auge gespritzt waren. Benommen sah er auf, während Grimwood nach hinten ins Licht trat, seine gewaltigen Muskeln spielen ließ und auf der Stelle tänzelte, als sei er ein Boxer im Ring.
Für King war zunehmend klar, dass das Leben eine beschissene Angelegenheit war. Vor allem, wenn man von einem Typen durchgeprügelt wurde, der nicht wusste, wo sein Hintern war, es sei denn, er bezahlte jemanden, damit der einen Spiegel hochhielt und es ihm zeigte.
Das Ganze war nicht mal in irgendeiner Weise ehrenvoll. Die Vampire hatten ihn geschnappt, und nun würden sie ihn umbringen. So simpel war das.
Die umstehenden Vampire besaßen nicht mal genug Phantasie, um irgend etwas anderes zu tun, als herumzustehen und wie ein Haufen großer Feiglinge lediglich zuzusehen.
Das kam einer Beleidigung gleich.
Trotzdem war es immer noch besser als das, was Danica ihm angedroht hatte.
King spuckte Blut auf den edlen Teppich und warf einen finsteren Blick auf Asher und Danica, die sich vor ihm aufgebaut hatten. Er sah alles doppelt, deshalb war er nicht sicher, welche der beiden weiblichen Gestalten die echte Danica war. Irgendwie hübsch waren sie beide, auch wenn sie böse und natürlich extrem schlampig waren. Er zermarterte sich das Hirn, aber ihm wollte kein passender Witz über weibliche Vampire einfallen.
Er musste sich in einer schlechteren Verfassung befinden, als er es selbst für möglich gehalten hatte.
Stattdessen sah er wütend Grimwood an. Er war zwar durchgeprügelt worden, aber sie würden nicht erleben, wie er aufgab. Er fletschte die Zähne und hoffte inständig, seine Stimme würde durchhalten. „Das wird dir noch Leid tun.“
„Niemand kommt, um dich zu retten, King“, mischte sich Asher mit kühler, spöttischer Stimme ein. King starrte ihn finster an. Dieser Hurensohn hatte seinen Spaß daran, es einem Sterblichen heimzuzahlen, der seine Schwester flachgelegt und es aller Welt erzählt hatte.
Tja, er hatte eine kleine Überraschung für ihn.
Eigentlich hatte er für sie alle eine kleine Überraschung.
King drehte den Kopf und versuchte, das seltsame Krachen zu ignorieren, das sein Hals von sich gab, sobald er ihn bewegte. Bei seinem dritten Versuch konzentrierte er sich auf Asher: „Na, und ob. Ich habe ihnen eine kleine Spur aus digitalen Brotkrumen hinterlassen.“
Danica lachte spöttisch. „Sonst geht es dir noch gut?“
King warf ihr einen finsteren Blick zu. Dieses Miststück von Vampirin. Er hätte sie umbringen sollen, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Er wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel und setzte sich auf, wobei er Danica gezielt ignorierte. „Es gibt da etwas, das ihr über uns Nightstalker wissen müsst. Wenn ihr Mitglied in unserem Club werdet, kriegt ihr eine Wundertüte mit richtig coolen Geschenken. Unter anderem auch ein toller kleiner Sender, der in den Körper eingepflanzt wird.“
„Blödsinn.“ Grimwood grinste ihn höhnisch an, doch seine Stimme verriet, dass er verunsichert war. King spürte das. War es nur Einbildung, oder hatte dieser 120 Kilo schwere Vampir tatsächlich gerade eben wie ein ängstliches kleines Mädchen zur Tür gesehen?
King bewegte hinter dem Rücken seine Handgelenke und testete abermals seine Fesseln. „Pfadfinderehrenwort. Wenn einer von uns abhanden kommt, dann wählen die anderen einfach einen Satelliten an, und schon kann die Kavallerie losreiten.“
Grimwood blickte zu Danica und wirkte nicht mehr ganz so mutig. Sollte dieser jämmerliche Trottel etwa die Wahrheit sagen?
Asher war unbeeindruckt. „Er blufft.“
Danica lächelte King zu und ging auf sein Spiel ein. Sie glaubte ihm kein Wort, aber sie wollte herausfinden, wie lange er an dieser Lüge festhalten würde. Wenn sie ihn so gut kannte, wie sie glaubte, dann konnte das sehr vergnüglich werden. „Okay, King. Wo steckt denn dieser tolle Sender?“
King täuschte einen Hustenanfall vor, dann räusperte er sich und bedeutete Danica näher zu kommen. Erwartungsvoll sah sie ihn an, während sie den stechenden Geruch von Angst und Hass wahrnahm, der von seiner Haut ausging. King hustete wieder, dann flüsterte er: „In meiner linken Arschbacke.“
Mit einer Wucht, als würde ein Hurrikan einen Ast peitschen, schlug Danica ihm ins Gesicht. Kings Schädel wurde herumgerissen, Sterne tanzten vor seinen Augen. Dann aber schüttelte er den Kopf wie ein Hund, seine Stimme gewann an Kraft. Langsam machte ihm die Sache Spaß. „Okay, ich geb’s zu. Er ist in meiner rechten Arschbacke.“
Читать дальше