Medivh war das Medium für Sargeras Invasion gewesen und verantwortlich für die Anwesenheit der Orcs in dieser Welt. Und das alles nur, weil Aegwynn arrogant genug gewesen war zu glauben, dass sie Sargeras allein besiegen könnte...
Jaina hatte sich diese Worte zu Herzen genommen und immer ihre eigene Selbstsicherheit angezweifelt. Sie bewunderte Aegwynn immer noch. Ohne sie als Wegbereiterin wäre die einzige Antwort auf Jainas Versuch, Magie zu studieren, Gelächter gewesen, statt der Skepsis, die sie vorfand.
Und sie hatte Antonidas beeinflusst.
Manchmal hatten die Selbstzweifel gegen sie gearbeitet. Sie hatte länger, als es gut gewesen war, nicht ihrem Instinkt vertraut, dass Arthas dem Bösen verfallen war. Wenn sie Arthas' Niedergang bedachte, fragte sie sich immer noch, ob alles anders gekommen wäre, hätte sie nur früher gehandelt. Aber meistens hatten sie ihr gut geholfen. Sie machten sie auch, das hoffte sie zumindest, zu einer weisen Herrscherin von Theramore.
Als Thrall ihr von der Zerstörung des Waldes von Thunder Ridge berichtet hatte, hatte sie sofort gewusst, dass Magie im Spiel war – und zwar mächtige Magie. Aber sie hatte auch gehofft, dass sie falsch mit ihrer Annahme lag.
Was sich als trügerische Hoffnung erwiesen hatte.
Sie war geradewegs von ihrer Kammer in Theramore zu dem betreffenden Wald gegangen . Sobald sie materialisierte, konnte sie die Magie förmlich riechen. Und selbst ohne ihre besonderen Fähigkeiten hätte sie wissen müssen, dass hier Zauberei wirkte.
Vor ihr befand sich ein Feld von Baumstümpfen, das sich so weit erstreckte, wie ein Mensch sehen konnte, bevor es sich über dem Hügel verlor, der hinunter zum Gebirgskamm führte. Jeder Stumpf zeigte eine perfekte Schnittfläche.
Es war, als wäre eine riesige Sense durch alle Bäume auf einmal gefahren. Mehr noch, die Schnitte waren allesamt gleich – ohne Risse oder Brüche. Solch einen Grad an Perfektion konnte man nur mit Magie erreichen.
Jaina kannte die meisten Magier, die noch lebten. Und die wenigen, die außer ihr zu so etwas in der Lage waren, befanden sich nicht auf Kalimdor. Außerdem fühlte sich diese Magie anders als jede an, die sie kannte.
Jeder Magier verwendete seine Kräfte auf ureigene Art und Weise. Wenn man sensibel genug war, konnte man die Unterschiede zwischen den Zaubern erkennen. Und diese Magieform hier rief leichten Ekel in Jaina hervor, was sie vermuten ließ, dass es sich um Dämonenmagie handelte. Das Ekelgefühl war zwar kein eindeutiges Indiz dafür, aber auch die Zauberei der Brennenden Legion hatte Jaina immer krank gemacht. Doch das hatte auch die Magie von Kel'Thuzads, als Antonidas sie in Jainas drittem Lehrjahr einführte. Und das war zu einer Zeit gewesen, als der Erzmagier einer der besten Zauberer von Kirin Tor war (lange bevor er zur Nekromantie wechselte und ein Vasall des Lich-Königs wurde).
Allerdings war die Quelle der Zerstörung weniger wichtig als deren Auswirkungen. Donnerechsen streiften nun durch Drygulch – und möglicherweise noch viel weiter. Jaina musste einen entlegenen Ort finden, wohin sie sie bringen konnte, damit sie nicht über die Farmen und Städte der Orcs herfielen.
Sie griff unter ihren Umhang und zog eine Karte hervor – eine der beiden Sachen, die sie aus der Unordnung auf ihrem Schreibtisch gefischt hatte. Sie hatte sich für das Hochland von Bladescar als idealem Exil entschieden, um die Echsen umzusiedeln. Im südlichen Bereich von Durotar gelegen, östlich von Ratchet, war das Hochland weit genug entfernt und vom restlichen Land durch Berge getrennt, die den Donnerechsen das Entkommen schwer machen würden. Außerdem gab es genügend Gras zum Weiden, Platz, um nach Herzenslust herumzulaufen und einen Gebirgsfluss, der fast so groß war wie der Fluss, an den sie in Thunder Ridge gewöhnt waren. Die Echsen würden sicher sein und ebenso die Bevölkerung von Durotar.
Zuerst hatte sie sie noch weiter fortschaffen wollen. Zum Beispiel nach Feralas auf die andere Seite des Kontinents. Aber selbst Jainas Fähigkeiten waren Grenzen gesetzt. Sie selbst konnte sich mit Leichtigkeit dorthin teleportieren. Aber zusammen mit Hunderten von Echsen war das mehr, als selbst sie über eine solche Distanz zu schaffen vermochte.
Dann zog sie den anderen Gegenstand aus ihrem Umhang: eine Schriftrolle, die einen Spruch enthielt, der es ihr ermöglichen würde, die Gedanken von jeder Donnerechse auf dem Kontinent zu erspüren.
Sie murmelte die Beschwörung, und ließ dann ihre Sinne wandern. Anders als die meisten Reptilien besaßen Donnerechsen einen Herdentrieb wie Rinder. Deshalb blieben sie meist zusammen, selbst wenn sie ihre Heimat verließen.
Schnell fand sie eine Herde grasend an dem Fluss, der die Drygulch-Klamm mit Wasser versorgte. Sie waren gerade in einer friedlichen Stimmung, was Jaina das Leben merklich erleichterte. Sie war auch darauf vorbereitet, sie magisch in diesen Zustand zu versetzen, falls es nötig werden sollte. Donnerechsen waren entweder absolut friedfertig oder sie randalierten. Zwischen diesen beiden Extremen gab es nichts. Und es wäre sehr viel problematischer geworden, sie zu teleportieren, während sie gerade außer Rand und Band waren.
Generell zog sie es vor, die Tiere nicht mehr als nötig in ihrer Routine zu stören, aber das schloss nicht aus, dass sie heilfroh war, sie gerade im kooperativeren Zustand anzutreffen.
Im Allgemeinen hieß es, ein Zauberer benötige Blickkontakt mit dem »Passagier«, wenn er ihn bei der Teleportation mitnehmen wollte. So stand es in den Schriftrollen, die es zum Thema gab. Aber Antonidas hatte Jaina beigebracht, dass es auch funktionierte, wenn man einen Gedankenkontakt herstellte. Dazu musste die Magierin den Geist derer berühren, die sie auf ihrem Sprung begleiten sollten. Was bedeutend riskanter war, da es etliche Geschöpfe gab, deren Geist zu berühren schwierig oder gar gefährlich war. Andere Magier oder Dämonen hatten sich dagegen geschützt, und selbst einige besonders willensstarke Menschen wären in der Lage, Widerstand zu leisten.
Im Fall der Donnerechsen bestand diese Gefahr jedoch nicht. Momentan waren ihre Gedanken auf drei existentielle Dinge beschränkt: essen, trinken oder schlafen. Abgesehen von der Paarungszeit waren dies zugleich die Aktivitäten, die das Denken der Donnerechsen die meiste Zeit ihres Lebens ausfüllten.
Trotzdem benötigte Jaina mehrere Stunden, um mit ihrem Geist über den vernichteten Wald zu tasten auf der Suche nach jeder Donnerechse, die sich in Drygulch herumtrieb, und ebenso jedem Nachzügler, der sich auf Razor Hill zu bewegte.
Gras. Wasser. Augen schließen. Ausruhen. Kauen. Schlucken. Schlürfen. Schlafen. Atmen.
Für einen Moment verlor sie sich fast im Wust der Impressionen. Die Gedanken der Echsen waren nicht sonderlich komplex, aber es gab Hunderte , und Jaina bemerkte, dass sie von deren instinktiven Bedürfnissen – essen, trinken, schlafen – förmlich überrollt wurde.
Sie biss die Zähne zusammen und behauptete ihr eigenes Ich gegen das von Hunderten von Donnerechsen. Dann begann sie, die Beschwörung für den Teleportspruch zu murmeln.
Qual!
Sengender, glühend heißer Schmerz durchtobte Jainas Schädel, als sie die letzte Silbe des Spruchs über ihre Lippen brachte. Der zerstörte Wald schmolz vor ihr wie in einer Implosion zusammen... und eruptierte im nächsten Moment wieder zu seiner alten Form zurück.
Ein milderer Schmerz pflanzte sich durch Jainas linkes Knie, und erst da erkannte sie, dass sie zu Boden gestürzt war. Ihr Knie war auf einen Baumstumpf geprallt.
Schmerz. Verletzt. Verletzt. Verletzt. Laufen. Laufen. Laufen. Laufen. Kein Schmerz mehr. Laufen, kein Schmerz.
Schweiß perlte von ihrer Stirn. Jaina widerstand dem Drang, durch den Wald zu rennen. Irgendetwas war mit dem Teleportspruch schief gegangen, aber Jaina hatte nicht die Zeit, herauszufinden, was passiert war. Denn die Schmerzen, die der fehlgeschlagene Spruch auslöste, wurden über die mentale Verbindung auf die Donnerechsen übertragen.
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