Mehrere Sekunden lang starrte Lorena dem Kapitän tief in die Augen. Dann seufzte sie. »Sehr gut, Kapitän, danke. Das ist alles.«
»Verdammte Zeitverschwendung«, murmelte Avinal und verließ den Wachraum.
Nachdem der Kapitän gegangen war, sagte Strov: »Der größte Teil der Mannschaft lässt genau das Gleiche verlauten, Ma'am.«
»Natürlich tun sie das«, knurrte Davin. »Und zwar weil es die Wahrheit ist, so wie es für jeden, der auch nur kurz darüber nachdenkt, auf der Hand liegt.«
Lorena wirbelte herum. »Sagt mir, Major, warum habt Ihr nicht erwähnt, dass Kapitän Avinal einem anderen Boot nahe kam oder dass es sein Nebelhorn blies?«
»Ich dachte nicht, dass es wichtig wäre.«
Lorena änderte ihren Brief im Geiste, sodass Davin nun doch eher zum Latrinendienst verdonnert wurde. »Es ist nicht Euer Job, Wichtigkeit zu werten. Es ist Euer Job, Eure Pflicht, den Befehlen Eurer Vorgesetzten zu folgen.«
Davin atmete tief aus. »Oberst, Ihr wurdet hierher geschickt, um herauszufinden, ob Kapitän Avinal irgendetwas falsch gemacht hat. Das hat er nicht. Und was zählt es, ob eine Horde Grünhäute ihre Ladung verloren hat?«
»Das haben sie gar nicht. Denn sie haben die Piraten selbst und sehr erfolgreich bekämpft.«
Jetzt stand Davin ruckartig wieder auf. Er musterte Lorena, als zweifele er an ihrem Verstand. »Bei allem gebotenen Respekt, Ma'am, warum dann diese Befragung? Es ist ja nicht so, dass die Grünhäute unsere Hilfe nötig gehabt hätten. Weshalb werden wir also wie Verbrecher behandelt? Wie ich schon sagte, wir haben nichts Falsches getan und uns auch sonst nichts zuschulden kommen lassen!«
Lorena schüttelte den Kopf. Sie konnte dieser Sicht der Dinge absolut nicht zustimmen.
Byrok hätte sich nie vorstellen können, dass er einmal die glücklichste Zeit seines Lebens beim Fischen verbringen würde.
Auf den ersten Blick schien das nichts für einen Orc zu sein. Fischen hatte nichts mit Kämpfen zu tun, es gab keinen Ruhm zu ernten, keinen echten Kampf als Herausforderung, kein Ringen gegen einen gleichwertigen Feind. Es wurden keine Waffen benutzt, und Blut floss auch nicht.
Aber es war weniger, was er tat, als vielmehr das, warum er es tat. Tun konnte. Byrok ging fischen, weil er frei war.
In seiner Jugend war er auf die falschen Versprechungen von Gul'dan und dem Schattenrat hereingefallen, die eine neue Welt prophezeit hatten, wo der Himmel blau und die Bewohner leichte Beute für die hoch überlegenen Orcs sein würden. Byrok war zusammen mit anderen seines Clans Gul'dans Befehlen gefolgt, niemals ahnend, dass Gul'dan und der Rat Sargeras' Wünschen und denen seiner widerlichen Dämonen folgte. Und er hatte auch nicht erkannt, dass der Preis für diese neue Welt ihre Seelen sein sollten.
Es dauerte ein volles Jahrzehnt, bis die Orcs geschlagen waren. Entweder wurden sie von den Dämonen versklavt, die sie für ihre Wohltäter gehalten hatten, oder von Menschen unterworfen, die bewiesen, dass sie mehr Kampfgeist in sich trugen, als die Dämonen sich offenbar vorstellen konnten.
Dämonische Magie hatte Byroks Erinnerungen an sein Leben in der alten Orc-Heimat gelöscht. Und der Wunsch nach Verdrängung hatte seine Erinnerungen an die Zeit in menschlicher Gefangenschaft getilgt. Er erinnerte sich höchstens noch daran, dass die Arbeit hart und erniedrigend gewesen war und dass sie auch noch das bisschen Geist erstickt hatte, das ihnen die Dämonen am Ende ließen.
Dann aber war Thrall gekommen.
Alles hatte sich von da ab geändert. Der Sohn des großen Durotan, dessen Tod auf viele Arten das Ende der alten Lebensweise der Orcs bedeutet hatte, war ihrer aller Rettung aus dem Jammertal gewesen. Ihre Erlösung. Und Zukunft.
Thrall war seinen Peinigern entkommen und wandte die Taktiken der Menschen in der Folge gegen sie an. Er erinnerte die Orcs an ihre lange vergessene Vergangenheit, weckte längst Verschüttetes.
An dem Tag, an dem Thrall und seine wachsende Armee Byrok befreit hatten, hatte er geschworen, dass er dem jungen Orc dienen würde, bis einer von ihnen beiden starb.
Bislang war der Tod noch nicht gekommen, trotz größter Bemühungen von Menschensoldaten und Dämonenhorden. Ein niederes Mitglied der Brennenden Legion konnte immerhin für sich beanspruchen, Byroks rechtes Auge gestohlen zu haben. Im Gegenzug jedoch hatte Byrok den Kopf des Dämons für sich beansprucht.
Als der Krieg endete, als die Orcs sich in Durotar ansiedelten, erbat sich Byrok, aus dem Dienst entlassen zu werden. Sollte der Kriegsruf wieder erschallen, versprach Byrok, würde er jedoch zu den Ersten gehören, die den Umhang des Kriegers wieder anlegten, selbst mit nur einem Auge.
Vorerst aber wollte er nur seine Freiheit genießen, für die er so hart gekämpft hatte.
Thrall hatte sie ihm gewährt, ebenso wie allen anderen, die sie sich erbaten.
Byrok war natürlich nicht gezwungen, sich als Fischer zu verdingen. In Durotar gab es ausgezeichnetes Farmland. Weil die Südlande auf sumpfigem Gebiet lagen, bauten die dort lebenden Menschen kein Getreide an, sondern steckten ihre meiste Energie ins Fischen. Ihren Überschuss tauschten sie mit den Orcs gegen Getreide.
Aber Byrok wollte keinen Fisch, den Menschen gefangen hatten. Er wollte nichts mit Menschen zu tun haben, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Ja, die Menschen hatten auf Seiten der Orcs gegen die Brennende Legion gekämpft. Aber das war ein Zweckbündnis gewesen. Menschen waren Monster, und Byrok wollte mit diesen unzivilisierten Kreaturen möglichst nichts zu schaffen haben.
Deshalb war es ein regelrechter Schock, als der einäugige Orc an seinem üblichen Angelplatz am Deadeye Shore sechs Menschen entdeckte.
Das Gelände, das Byroks Angelplatz umgab, war hohes Grasland. Byroks Gespür war – auch mangels heilem rechtem Auge – ein wenig eingerostet. Davon abgesehen fand sich aber tatsächlich keinerlei Hinweis darauf, dass irgendjemand außer ihm selbst kürzlich durch das Gras gelaufen war. Schon gar keine Menschen, die für solch kleine, leichtgewichtige Kreaturen traurig tiefe Abdrücke in der Natur hinterließen. Sie waren eben eher tumb in ihren Bewegungen.
Byrok sah auch keine Luftschiffe in der Nähe oder Boote auf dem Wasser innerhalb der Sichtweite der Fischgründe.
Wie sie eigentlich genau hierher gekommen waren, bereitete Byrok allerdings auch deutlich weniger Sorgen als die Tatsache, dass sie da waren. Er legte sein Angelzeug ab und löste den Morgenstern von seinem Rücken. Die Waffe war ein Geschenk von Thrall, nachdem der Kriegshäuptling ihn aus der Gefangenschaft befreit hatte. Byrok ging nirgendwo ohne ihn hin.
Wären die Leute bei Byroks Fischgründen Orcs gewesen, hätte er den Grund ihrer Anwesenheit erfragt. Aber Menschen, vor allem menschliche Ruhestörer , verdienten eine solche Behandlung nicht. Er würde ihre Absichten herausfinden. Im besten Fall waren es Narren, die sich zu weit nach Norden gewagt und nicht mitbekommen hatten, dass sie auf fremdes Gebiet vorgedrungen waren. Byrok lebte schon lange und hatte herausgefunden, dass Dummheit durchaus häufiger vorkam als echte Boshaftigkeit.
Aber im schlimmsten Fall konnte es sich auch um echte Eindringlinge handeln, und wenn das zutraf, würde Byrok sie nicht lebend aus seinen Fischgründen entkommen lassen.
Byrok hatte die Sprache der Menschen während seiner Gefangenschaft erlernt, deshalb verstand er auch die Unterhaltung der sechs. Zumindest die Worte, die er aufschnappte. Von da, wo er im hohen Gras kauerte, konnte er beileibe nicht alles verstehen.
Was er aber hörte, klang nicht gut. »Umsturz« war eines der Wörter, »Thrall« ein anderes. Genauso wie »Grünhaut«, eine abwertende Bezeichnung der Menschen für Orcs.
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