»Reorx!« fluchte Flint, als er im Leeren herumruderte und dann platschend in eiskaltes Wasser fiel. Die Strickleiter, die er während des Falls nutzloserweise festgehalten hatte, landete neben ihm.
Der Zwerg schlug spuckend um sich und prustete in dem metallisch schmeckenden Wasser herum – bis er erkannte, daß er irgendwie nicht tiefer in das eisige Naß eintauchte. Erst da merkte Flint, daß er auf Händen und Knien hockte und daß das Wasser ihm nur bis zum halben Unterarm reichte. Wenn er nicht so um sich geschlagen hätte, wäre er wahrscheinlich gar nicht besonders naß geworden.
Das alles – dazu hatte der Sturz noch seine Schulterwunde wieder aufgerissen – machte ihm nicht gerade gute Laune.
»Bei Reorx’ Schmiede!« stammelte er, während er sich aus dem flachen Wasser zog. Doch er bereute seine Worte auf der Stelle. Sie hallten in der Finsternis um ihn herum nach, als wenn er sich in einer riesigen Höhle befände. Flint hatte den beunruhigenden Eindruck, daß die Schwärze wütend aufwirbelte, als wollte sie ihre Stille nicht durch seine Worte stören lassen. Der Zwerg fühlte einen Schauer über seine Haut laufen – eindeutig vom kalten Wasser, versicherte er sich, auch wenn er fürs erste den Rest seiner Beschwerden für sich behielt.
Flint setzte sich kurz auf den kalten Boden und versuchte zitternd, in der Dunkelheit wieder zu Atem zu kommen. Er sah sich um, konnte aber nirgends Licht entdecken – wenig überraschend mitten in der Nacht im Inneren einer Schlucht, fand er. Der Sturz konnte kurz gewesen sein oder die halbe Schlucht runter; das konnte er nicht feststellen. Sein Herz setzte fast aus, als er an Tanis da oben dachte. Flint schüttelte den Kopf. Jetzt konnte er Tanis nur durch ein kurzes Gebet zu Reorx helfen und versuchen, einen Weg nach draußen zu finden, wo auch immer er gelandet war.
Flint spähte in die Finsternis um sich herum. Zwerge haben eine besondere Sehfähigkeit, durch die sie fähig sind, Wärme wahrzunehmen, die von etwas ausgeht – was Flint in der kalten Schwärze hier unten kein bißchen weiterhalf.
Aber auf einmal sah er doch etwas – etwas, das wie zwei blasse Kreise aussah, die nebeneinander schwammen, und zwar dort, wo er den kleinen Teich wußte. Die Kreise waren so matt, daß er sie kaum sehen konnte, und leuchteten in einem kränklichen Grün. Dann bemerkte er ein weiteres Paar kleiner Kreise und noch eins, das langsam vor ihm her trieb.
Flint klopfte die Taschen seines Lederwamses und seiner Hosen ab, bis er gefunden hatte, was er suchte – Flint und Stahl, Zunder und einen Kerzenstummel. Zum Glück waren die Sachen in geöltes Leder eingewickelt gewesen, so daß sie noch trocken waren. Kurz darauf hatte Flint einen Funken geschlagen. Ein Flämmchen leuchtete auf.
Im flackernden Licht sah Flint, wie sich vor ihm die dunkle Wasserfläche wie polierter Onyx erstreckte. Der Zwerg erschauerte, als er die Quelle des seltsam blassen Lichts sah: Fische, die in dem eiskalten Teich schwammen. Die Fische waren blasse, schwächliche Geschöpfe von der Länge seines Unterarms, mit gewölbten Augen, so groß wie Untertassen. Ihre Augen hatten das kränkliche Licht ausgestrahlt. Das Licht seiner Kerze schien sie zu stören, denn sie schwammen still davon, auf der Suche nach der Finsternis, die sie seit Äonen ungestört bewohnten.
»Bei den Göttern, was ist das für ein Ort?« murmelte Flint in sich hinein. Er hob die Kerze in die Höhe und sah sich um. Der Boden war aus grauem Stein – Kalkstein wahrscheinlich, überlegte er, der unter der oberen Granitschicht lag – und die Wände aus dem gleichen Material. Aber der Stein wirkte zu glatt und zu eben, um natürlichen Ursprungs zu sein. Hohe Zapfen erhoben sich wie Stalagmiten aus dem Boden, doch als Flint näher kam, sah er, daß es kunstvoll verzierte Säulen waren. Die waren nicht durch das Wasser entstanden, das wußte er, sondern durch die Hände lebender Wesen. Er ging langsam durch den gewaltigen Raum, in dem er gelandet war. Obwohl er beim Echo seiner Schritte zusammenzuckte, lief er weiter.
Er sah, daß er gar nicht in einer Höhle war, sondern in einer Art großem Saal. Säulen standen an den turmhohen Wänden, die nach oben in die Schatten hochragten, jenseits von Flints schwachem Kerzenschein. Reihen von Bänken waren auf eine Art erhöhtes Podium ausgerichtet, hinter dem eine breite Treppe nach oben in die Schatten zu unbekannten Orten führte.
Die Steinmetzarbeit war unglaublich kunstvoll. Flint fuhr mit der Hand über die sorgfältig polierten Ränder und die verschlungenen Muster der Säulen. Solche Handwerkskunst kannte die Welt heute nicht mehr, aber Flint war sicher, daß sie von Zwergen stammte. Es konnte nichts anderes sein, nicht hier, so tief unter der Erde. Aber es war auch alt. Das Alter lastete hier so schwer wie das enorme Gewicht des Felsens, der zwischen Flint und der Außenwelt lag. Doch was für ein Ort konnte das sein, so nah an dem Elfenreich? Er mußte sehr alt sein, womöglich älter als Qualinesti selbst.
Eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte Flint, und die kleine Kerzenflamme zuckte, als seine Hand zu zittern begann. Unwillkürlich fielen ihm die Worte eines alten Gedichts ein, das er als Kind gelernt hatte. Er erinnert sich, wie er als ganz kleiner Junge auf dem Schoß seines Vaters gesessen hatte. Es war eine der wenigen Erinnerungen an seinen Vater, der sehr früh gestorben war. Flint hatte gebannt gelauscht, wenn sein Vater leise am Feuer von einem uralten Königreich gesungen hatte:
So schloß man die Tore auf des Lehnsherrns Wort
Bei kaltem Totengeläut sogleich.
Versperrt vor dem Volke im Sonnenschein,
In Schatten fiel das alte Reich.
Flint erschauerte beim Gedanken an seinen Großvater, der in den Zwergentorkriegen umgekommen war. Dann überlegte er weiter, wo er sich wohl befinden mochte.
»Thorbardin? Pax Tharkas?« flüsterte Flint in die Schatten.
Es war gut möglich, sagte er sich, daß er durch einen anderen dieser verflixten elfischen Sla-Mori gefallen war, einen, der in die alte Hauptstadt der Bergzwerge oder in die Festung der Elfen und Zwerge führte. Wenn das so war, dann würde es ratsam sein, den verhaßten Vettern der Hügelzwerge so rasch wie möglich zu entkommen.
Zögernd, weil er die Wahrheit über seinen Aufenthaltsort zu entdecken fürchtete, ging Flint weiter.
Tanis landete unsanft auf einem schmalen Granitvorsprung, der etwa dreißig Fuß unter dem Rand aus der Klippe ragte – immer noch Hunderte von Fuß über dem Fluß.
Als er aufkam, erzitterte der Vorsprung unter seinem Gewicht. Ein paar Kieselsteine rutschten herunter, um lautlos kreisend ins Leere zu fallen. Der Stein neigte sich leicht zur Schlucht hin. Tanis suchte sich etwas zum Festhalten, als ein Haufen Erde und Steine über ihn hinwegrauschte und ihm in Augen und Mund drang. Seine linke Hand erwischte ein festes Stück Felsen, und er hörte auf zu rutschen.
Er blinzelte den Dreck aus den Augen. Dann schrie er: »Gilthanas!«
Sein Cousin rutschte den Stein hinunter und war drauf und dran, in den Abgrund zu stürzen. Verzweifelt streckte Tanis die Hand aus und konnte Gilthanas gerade noch am Handgelenk festhalten. Zuerst befürchtete der Halbelf, daß er durch das zusätzliche Gewicht selbst den Halt verlieren würde, so daß sie dann beide in die Tiefe stürzen würden, doch er schaffte es, seine Stiefelspitzen in eine Spalte in der Klippe zu graben. Er preßte sich eng an den glatten Stein und hielt Gilthanas mit aller Kraft fest. Tanis konnte nicht feststellen, ob der junge Elf lebte oder tot war.
Die lastende Schwärze der Mitternacht machte alles nur noch schrecklicher.
Tanis merkte, daß seine Handfläche schweißnaß wurde. Der Felsen neigte sich noch weiter. Wie lange konnte er noch festhalten? Es war sowieso egal. Der Stein konnte jeden Moment abbrechen.
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