»Glaubte er, Ihr könntet Euch unter dem Schutz der Prinzessin einen Ehemann angeln?«
»So etwas in der Art, ja. Es sollte eine einzigartige Gelegenheit für mich sein.« Sie zuckte die Achseln. »Seither habe ich gelernt, dass die hohen Herrschaften sich eher noch mehr für die Mitgift interessieren als andere Männer. Ich hätte damit rechnen …« Sie presste die Lippen zusammen. »Ich hätte mit einem überheblichen Verführer gerechnet. Aber diese ketzerische Zauberei und der heulende Wahnsinn haben mich überrumpelt.«
Zum ersten Mal fragte sich Ingrey, ob Ijada vielleicht tatsächlich den Blick eines Ehemannes auf sich gezogen hatte — den des Grafen von Rossfluten. Dieser war bereits seit vier Jahren mit der Tochter des Geheiligten Königs verheiratet, und es gab bisher keine Kinder. Steckte hinter dieser Kinderlosigkeit vielleicht mehr als bloßes Unglück?
Auf alle Fälle wäre es ein guter Grund für die Prinzessin gewesen, ihre Zofe bei erster Gelegenheit loszuwerden. Und wenn sie eifersüchtig genug auf die liebreizende Rivalin gewesen war, hatte es Prinzessin Fara vielleicht auch nichts ausgemacht, Ijada einem unangenehmen Schicksal zu überlassen. Hatte Fara gewusst, was ihr Bruder vorhatte? Abgesehen von der offensichtlichen Vergewaltigung?
Welcher Anfang?, hatte Lady Ijada gestern gefragt. Als gäbe es davon ein Dutzend, unter denen man nach Belieben auswählen konnte.
»Was haltet Ihr von Graf Rossfluten?«, fragte Ingrey so beiläufig wie möglich. Der Graf hatte Grundbesitz, entstammte einer alten Familie, doch seine bemerkenswerteste Macht war im Augenblick zweifellos seine Stellung als weltlicher Kurfürst: Seine Stimme war eine von dreizehn, die über den nächsten Geheiligten König entscheiden würden. Obwohl solche politischen Überlegungen bestimmt über den Horizont dieser jungen Frau hinausgingen, wie klug sie auch sein mochte.
Jetzt schürzte sie die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn. Sie sah weder erschrocken noch auf irgendeine Weise verlegen aus. »Ich bin mir nicht sicher, was ich von ihm halten soll. Er ist ein seltsamer … Mann. Ich hätte fast ›junger Mann‹ gesagt, aber er kommt mir ehrlich gesagt gar nicht jung vor. Ich denke, es liegt zum Teil an seinen zu früh ergrauten Haaren. Er ist sehr intelligent, manchmal schon unangenehm scharfsinnig. Und launisch. Manchmal läuft er tagelang schweigend umher, als wäre er vollkommen in seine eigene Welt versunken. Dann wagt niemand, ihn anzusprechen, nicht einmal die Prinzessin.
Zuerst dachte ich, es läge an seinen kleinen, wisst Ihr, Missbildungen, dem Rückgrat und dem seltsam geformten Gesicht. Doch er scheint sich wegen seines Körpers keinerlei Gedanken zu machen. Auf keinen Fall wird er davon behindert.« Sie schaute mit verspäteter Vorsicht zu Ingrey hinüber. »Kennt Ihr ihn gut?«
»Nicht, seit wir erwachsen sind«, erwiderte Ingrey. »Ich bin eng mit ihm verwandt, über seine verstorbene Mutter. Als wir beide noch Kinder waren, bin ich ihm einige Male begegnet.« Ingrey erinnerte sich an den jungen Lord Wenzel von Rossfluten: ein schmächtiger, ungeschickter Junge mit ewig feuchtem Mund, der nicht allzu klug wirkte. Vielleicht lag es an seiner Schüchternheit, dass er kaum den Mund aufbekam. Doch als Kind hatte Ingrey wenig Mitgefühl empfunden für einen kleineren Vetter, der nicht mithalten konnte. Er hatte gar nicht erst versucht, ihn in seine Spiele mit einzubeziehen. Aber glücklicherweise, wie er im Nachhinein feststellen musste, hatte Ingrey ihn auch nicht gequält. »Sein Vater und der meine starben im Abstand von nur wenigen Monaten.«
Der bejahrte Graf von Rossfluten war allerdings schnell gestorben, und zwar auf annehmbare Weise an einem gewöhnlichen Schlaganfall. Nicht in der Blüte seiner Jahre, bellend und mit Schaum vorm Mund, während seine fiebrigen Schreie durch die Gänge der Burg hallten, als würden sie aus einem tiefen Abgrund der Qualen emporsteigen … Ingrey unterdrückte die Erinnerung.
Sie blinzelte in seine Richtung. »Was war Euer Vater für ein Mann?«
»Er war der Burgvogt von Birkenhain, unter der Herrschaft des alten Grafen Kasgut von Wolfengrund.« Und ich bin es nicht. Würde das ihrem wachen Verstand auffallen, oder würde sie einfach davon ausgehen, er wäre bloß ein jüngerer Sohn? »Birkenhain beherrscht das Tal des Birkbachs, wo er in die Lure fließt.« Was genau genommen ihre Frage nicht beantwortete. Wie waren sie nur auf dieses unheilvolle Thema gekommen? Ihm wurde klar, dass ihr Tonfall auf gleiche Weise neutral geklungen hatte wie seine Suggestivfrage nach Rossfluten.
»So viel habe ich schon von Ritter Ulkra erfahren.« Sie tat einen tiefen Atemzug und schaute zwischen den Ohren ihres Pferdes hindurch nach vorne. »Außerdem erzählte er von Gerüchten, nach denen Euer Vater am Biss eines tollwütigen Wolfes starb, dessen Seele er stehlen wollte. Und dass er auch Euch einen Wolfsgeist gegeben hat, der sich jedoch als verdorben erwies und Euch sehr krank machte. Und deswegen hätte man um Euer Leben und Euren Verstand gebangt, und Birkenhain fiel an Euren Onkel, nicht an Euch. Später jedoch wäret Ihr auf Wunsch Eurer Familie auf Pilgerfahrt gegangen und hättet dabei Linderung erfahren. Ich habe mich gefragt, ob das wahr sein mag und warum Euer Vater so etwas Fahrlässiges hätte tun sollen?«
Erst nachdem dieser ganze Tratsch aus ihr hervorgesprudelt war, wandte sie ihm wieder das Gesicht zu. Ihre Augen blickten bang und forschend zugleich.
Ingreys Pferd schnaubte und schüttelte den Kopf, als er derb am Zügel zerrte. Er lockerte den festen Griff und einen Moment später auch seine aufeinandergebissenen Zähne. Schließlich knurrte er: »Ulkra ist eine Klatschbase. Das ist eine üble Schwäche.«
»Er hat Angst vor Euch.«
»Nicht genug, wie es aussieht.« Ingrey zog sein Pferd herum und gab vor, den Zug zu inspizieren. Dann ritt er auf der gegenüberliegenden Seite wieder zur Spitze der Kolonne zurück. Allein. Sie blickte ihn an, als er vorbeiritt, und öffnete den Mund, doch er beachtete sie nicht.
Es war nicht so einfach, den Leichenzug über die schlammige Straße aus dem Tal hinauszubringen. Diese Aufgabe lenkte Ingrey weit genug ab, dass er wieder zur Ruhe kam. Oder zumindest gab es genug anderes, worüber er sich ärgern konnte, um seine ursprüngliche Wut zu ersetzen.
An einem steilen Abhang gerieten die Hufe des schnaufenden Gespanns ins Rutschen, und der Karren schlitterte seitwärts auf eine jäh abfallende Kante zu. Die Frau des Wagenlenkers kreischte eine Warnung. Ingrey sprang vom Pferd und brachte einige geistesgegenwärtige Wachen dazu, sich zusammen mit ihm gegen den Rand und die Rückseite des Wagens zu stemmen und ihn durch den Schlamm von dem Schwindel erregenden Felssturz fortzuschieben.
Das kostete Ingrey eine gezerrte Schulter und eine Menge Dreck auf den Gamaschen. Kurz war er versucht, einfach aufzugeben und den Wagen der Schlucht zu überlassen. Er stellte sich vor, wie der Karren hinabstürzte und auseinanderbrach, wie der Sarg auf die Felsblöcke prallte und aufsprang und Bolesos nackter Leib dann in einem Schwall von Salz seinem gerechten Schicksal entgegenfiel.
Aber der Wagen würde zwangsläufig die beiden treuen Zugtiere mit sich reißen, und sie verdienten es nicht, des Prinzen Los zu teilen. Außerdem stand Ingrey selbst zwischen Wagen und Abgrund und würde gleichfalls hinabgerissen und beim ersten Aufschlag zerquetscht werden. Dann würden seine guten Ledergamaschen als Taschen für seine zermalmten Überreste herhalten müssen … Dieser schauerliche Gedanke heiterte ihn ausreichend auf, sodass er hinterher zwar atemlos, aber in wiederhergestellter guter Laune aufs Pferd stieg.
Читать дальше