» Ich habe es ihr gesagt«, warf Liss ein. »Schon mehrmals.« Sie senkte die Stimme und fügte vertraulich, an Ista gewandt, hinzu: »Aber es ist schon in Ordnung. Ich hatte mal eine Großtante, die in ihrem Alter ebenso verwirrt war. Das arme Ding.«
»Ich bin nicht …«, setzte Lady dy Hueltar mit erhobener Stimme an, stockte dann und begann von neuem: »Das ist viel zu gefährlich. Bitte überlegt es Euch noch einmal, liebste Ista. Lord dy Baocia, Ihr seid doch jetzt das Haupt der Familie. Ihr müsst darauf bestehen, dass sie Vernunft annimmt!«
»Eigentlich«, stellte Ista fest, »ist er schon seit anderthalb Dekaden das Haupt der Familie.«
Dy Baocia schnaubte und murmelte halblaut: »O ja, überall in Baocia, außer in Valenda …«
Ista ergriff Lady dy Hueltars Hand und legte sie entschlossen auf den Arm ihres Bruders. »Ich bin mir sicher, Ihr seid sehr müde, gute Dame, nachdem Ihr so weit und so rasch gereist sind, und das aus so geringer Notwendigkeit. Aber mein Bruder wird dafür sorgen, dass Ihr morgen sicher nach Hause aufbrechen könnt — oder heute noch.«
»Ich habe schon meine Sachen hierher bringen lassen …«
Ista warf einen Blick auf die Gepäckstapel. »Die Diener werden sie zurückbringen. Ich werde später noch mit dir reden, Bruder.« Mit einigen dezenten Andeutungen lenkte sie beide durch die Tür nach draußen. Nachdem die letzte Hoffnung auf Unterstützung seitens dy Baocia zunichte war, zog Lady dy Hueltar sich an seiner Seite zurück. Missmutig gingen sie nebeneinander her, und die alte Dame wirkte zutiefst gekränkt.
»Wo ist die Frau denn hergekommen?«, fragte Foix und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Ich habe sie geerbt.«
»Mein Beileid.«
»Sie wird darüber hinwegkommen. Mein Bruder wird schon irgendeinen Zweig der Familie finden, wo er sie unterbringen kann. Das dürfte ihr zwar nicht so sehr gefallen wie ein fürstlicher Haushalt, aber vielleicht befriedigt es sie ein wenig, ihren früheren Ruhm zur Schau zu stellen. Sie lebt nicht einfach nur auf anderer Leute Kosten, müsst Ihr wissen; in gewissem engem Rahmen macht sie sich recht nützlich. Es ist allerdings traurig, dass sie selbst die Dankbarkeit zunichte macht, die eigentlich ihr Lohn sein sollte.«
Foix blickte zu Liss, deren Gesicht ein wenig reserviert wirkte. Dann merkte er an: »Nun, meine Dankbarkeit hält sich jedenfalls in Grenzen, fürchte ich.«
Liss schwang ihren Zopf durch die Luft. »Es ist auch egal.«
»Hat sie tatsächlich versucht, dich davon zu überzeugen, ich hätte dich entlassen?«, fragte Ista.
»O ja. Sie war sehr verärgert, als ich mich dumm gestellt und ihre Hinweise nicht verstanden habe.« Liss’ Mundwinkel zuckten nach oben. »Doch sie hat Recht. Ich bin keine richtige hochwohlgeborene Dame.«
Ista lächelte. »Ich nehme an, noch bevor das Jahr vorüber ist, werden wir mit Iselles und Bergons Hof zusammentreffen … in Visping, wenn nicht schon früher. Und dann sollst du tatsächlich zu einer Dame werden, auf meine Bitte hin und wegen deiner Kühnheit. Sera Annaliss dy … wie hieß noch mal dieses von Schafen verseuchte Dorf?«
»Teneret, Majestät«, hauchte Liss.
»Sera Annaliss dy Teneret, Kammerfräulein der Königinwitwe Ista. Klingt das nicht würdevoll? Was meint Ihr, Foix?«
Er grinste. »O ja. Ich denke, meiner Mutter würde es gefallen. Nun, der Bastard weiß, irgendetwas muss ich ihr anbieten, um … äh, das mit dem Bastard für sie gutzumachen.«
»Ach, du trachtest nach gesellschaftlichem Aufstieg? Nun, unmöglich ist es nicht. Dieses Jahr wird jungen Offizieren viele Möglichkeiten zum Vorankommen bieten, nehme ich an «
Foix bedachte Liss mit einer höfischen Verbeugung. »Darf ich danach trachten, werte Dame?«
Liss musterte ihn lächelnd und nachdenklich. Dann wanderte sie im Gemach umher und räumte Istas Sachen auf. »Fragt mich noch einmal in Visping, Ritter.«
»Das werde ich.«
Ista wies dy Cabon an, Goram zu ihr in den steinernen Innenhof zu bringen. Sie saß im Schatten des Säulengangs auf der Bank, auf der sie sich das erste Mal mit ihm unterhalten hatte, und betrachtete die Unterschiede.
Goram dy Hixar trug noch immer die Kleidung eines Knechts, seine Gestalt war immer noch klein gewachsen, seine Beine noch immer gebeugt, sein Bart so grau wie zuvor. Doch er kauerte sich nicht mehr so schildkrötenartig zusammen und bewegte sich mit dem Gleichgewicht eines Schwertkämpfers. Seine höfliche Verbeugung war geschmeidig genug für jeden Adelshof in der Provinz.
»Ich nehme an, Hochwürden dy Cabon hat Euch davon in Kenntnis gesetzt, dass ich nach einem Rittmeister suche?«, begann Ista.
»Ja, Majestät.« Dy Hixar räusperte sich unbehaglich und schluckte angesichts ihrer Gegenwart den Speichel herunter. Der alte Goram, überlegte sie, hätte ihn ausgespuckt.
»Seid Ihr dieser Aufgabe gewachsen?«
Er verzog das Gesicht. »Der Arbeit ja. Aber, Majestät … ich bin nicht sicher, ob Ihr versteht, wer ich war … wer ich bin. Weshalb niemand ein Lösegeld für mich zahlen wollte.«
Sie zuckte die Achseln. »Ein Hauptmann der Reiterei, ein Schwertkämpfer, Schläger, Mörder, der manch ein Leben auf dem Gewissen hat, und nicht nur das von Feinden, sondern auch das von Freunden … soll ich weitermachen? Die Art von Kerlen, deren Grabreden alle denselben Tenor haben: Welch eine Erleichterung.«
Er zuckte zusammen. »Ich sehe, ich muss Euch nichts mehr gestehen.«
»Nein. Ich habe es gesehen.«
Er blickte beiseite. »Alle meine Sünden sind offenbart … Das ist eine merkwürdige Sache, Majestät. Im Allgemeinen wird es als ein Wunder der Götter angesehen, dass sie die Sünden von einem nehmen. Doch Euer Gott hat all meine Sünden zu mir zurückgebracht. Goram der Knecht war ein hundertmal besserer Mensch, als Goram dy Hixar jemals sein kann. Ohne eigenen Verdienst wurde ich gerettet und bekam vor drei Jahren die Gelegenheit, als unbeschriebenes Blatt mit den beiden besten Männern in Caribastos zusammenzuleben. Nicht nur den besten Kriegern, sondern den besten Männern, versteht Ihr?«
Sie nickte.
»Davor hatte ich kaum eine Vorstellung, dass es überhaupt möglich sein konnte, so zu leben. Ich wollte es auch gar nicht wissen“. Ich hätte gespottet und gelacht über ihre Tugenden. Lord Illvin dachte, ich würde von Freude übermannt, als ich im Vorhof vor Euch auf die Knie fiel. Doch es war nicht die Freude, die mich niedergestreckt hat. Es war Scham.«
»Ich weiß.«
»Ich will nicht der sein, der ich bin. Vorher war ich glücklicher, Majestät. Doch anscheinend denkt jeder, ich sollte den Göttern dafür danken.«
Sie bedachte ihn mit einem ironischen Lächeln. »Glaubt mir, ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Aber Eure Seele ist nun wieder die Eure, und Ihr könnt daraus machen, was Ihr wollt. Wir alle, jeder von uns, sind das, was wir aus uns machen. Am Ende unseres Lebens bieten wir unsere Seelen unseren Schutzherrn an wie ein Handwerker das Werk seiner Hände.«
»Wenn das so ist, bin ich verpfuscht, Majestät.«
»Ihr seid noch unvollendet. Unsere Schutzherrn sind wählerisch, aber ich glaube, es ist nicht unmöglich, sie zufrieden zu stellen. Der Bastard selbst sagte zu mir …«
Dy Cabon atmete keuchend ein.
»… dass die Götter keine makellosen Seelen wollen, sondern bedeutsame. Ich denke, dass die Größe aus der Dunkelheit erwächst, wie Blumen aus dem Erdreich. Vielleicht kann Größe überhaupt nicht ohne Dunkelheit erblühen. Ihr wurdet von den Göttern ebenso berührt wie jeder hier. Gebt Euch nicht selbst auf.«
Seine matten grauen Augen röteten sich. Tränen schimmerten darin. »Ich bin zu alt, um noch einmal neu anzufangen.«
»Ihr habt noch mehr Jahre vor Euch als Pejar, der nur halb so alt war wie Ihr und den wir vor zwei Tagen hier vor den Mauern begraben haben. Stellt Euch an sein Grab und nutzt die Gabe des Atems, um Euch dort über Eure fehlende Zeit zu beklagen. Wenn Ihr es wagt.«
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