»Nein. Red keinen Unsinn. Wir werden gemeinsam fliehen.«
»Zu spät. Ich habe das Atomium bereits getrunken. Es war eine extrem hohe Dosis. Mir war beinahe eine ganze Stunde lang schlecht, und das ist mir noch nie passiert. Was bedeutet, dass wir weit, sehr weit, in der Zeit zurückreisen werden. Möglicherweise über das Jahr null hinaus.« Topaz’ Augen wanderten zu der Kaminuhr. »In weniger als dreißig Minuten erreichen wir den Horizontpunkt. Du musst los.«
Jakes Kopf drehte sich. »Atomium? Horizontpunkt? Weiter als vor Christi Geburt? Wovon redest du überhaupt?«
Topaz verlor die Geduld. »Ich werde mit Zeldt gehen, egal wohin. Mesopotamien, Assyrien, vielleicht auch Ägypten. Ich weiß es nicht.«
»Aber du kannst immer noch von hier verschwinden«, protestierte Jake kopfschüttelnd.
Topaz atmete einmal tief durch und schlug Jake sanft mit der Hand gegen die Stirn. »Ich bin hier auf einem Einsatz, verstehst du. Ein Einsatz .«
»W-was?«, stammelte Jake.
»Bevor wir Mont Saint-Michel verlassen haben, hat Kommandantin Goethe darum gebeten, Nathan und mich unter vier Augen zu sprechen – erinnerst du dich? Wir kamen überein, dass ich, sollte ich gefangen genommen werden, keinen Widerstand leisten würde. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wo Zeldt sich mit seinen Getreuen versteckt hält. Sein Unterschlupf könnte an jedem Ort der Welt sein, in jedem beliebigen Jahrhundert. Dies hier ist seit Jahren die erste Gelegenheit herauszufinden, wo er sich verkrochen hat.«
Allmählich begriff Jake, warum Nathan darauf bestanden hatte, dass sie keinen Versuch unternahmen, Topaz zu retten.
»Dann komme ich eben mit dir«, sagte er entschlossen. »Ich habe immer noch das Atomium, das du mir in Venedig gegeben hast.« Er zog die Kette mit der Phiole daran hervor. »Das nehme ich jetzt einfach.« Er machte Anstalten, das Fläschchen zu öffnen.
»Das geht nicht, Jake!«, rief Topaz und riss ihm das Atomium aus der Hand. »Alle Reisenden müssen exakt dieselbe Dosis zu sich nehmen. Und selbst wenn ich wüsste, wie viel es ist, oder wohin wir reisen – was ich nicht tue –, wäre es für einen Neuling wie dich viel zu riskant, mehr als tausend Jahre durch die Zeit zu reisen. Es könnte dich umbringen, ganz zu schweigen von allen anderen hier an Bord.« An dieser Stelle wurde ihr Ton wieder etwas sanfter. »Außerdem muss ich das hier allein erledigen.«
»Du musst den Verstand verloren haben! Zeldt ist doch nicht bescheuert. Er wird merken, was du vorhast, und dich töten.«
»Er wird mich nicht töten. Das kann ich dir versichern.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben!«, erwiderte Topaz so vehement, dass Jake unwillkürlich zusammenzuckte.
Mit einem Mal tat es Topaz leid. Sie streckte die Hand aus und fuhr Jake durchs Haar. »Die Sache ist kompliziert«, sagte sie leise.
»Kompliziert?«, wiederholte Jake. Genau dasselbe Wort hatte seine Mutter benutzt. Wovon, verdammt noch mal, redeten sie alle?
Da hörten sie das Klappern eines Schlüssels. Topaz’ Blick schoss hinüber zur Tür. Blitzschnell schob sie Jake in einen Wandschrank. »Keinen Laut, keine Heldentaten!«, befahl sie und schloss die Schranktüren hinter ihm.
Mina Schlitz kam steif in die Kabine geschritten.
Jake bückte sich und spähte durch den Türspalt. Er konnte Minas schwarzes Gewand und die rote Schlange an ihrem Handgelenk sehen.
»Was wollt Ihr?«, fragte Topaz kühl, ohne das geringste Anzeichen von Respekt oder gar Angst vor ihrer Feindin zu zeigen.
Einen Moment lang starrten die beiden einander an – Gegenpole, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Mina in ihrer eng sitzenden Uniform, mit eiskaltem, undurchdringlichem Blick und rabenschwarzem Haar, drohend wie ein Fallbeil; vor ihr Topaz mit ihren honigfarbenen Locken und indigoblauen Augen, diesem Spiegel ihrer tiefen, sich ständig verändernden Gefühle.
»Der Prinz wird Euch nun empfangen«, erwiderte Mina in gelangweiltem Tonfall.
»Wenn ich vielleicht zuerst noch eine Kleinigkeit zu mir nehmen dürfte?«, fragte Topaz mit gespielter Höflichkeit. »Eine so große Menge Atomium auf leeren Magen wäre selbst für Euch ein bisschen viel gewesen.«
Minas Schlange wurde sichtlich unruhig. Sie hob den Kopf und züngelte neugierig in Richtung des Wandschranks.
»Fünf Minuten«, gab Mina zurück und wandte sich zur Tür. Als sie die Kisten auf dem Boden sah, blieb sie ruckartig stehen.
Da ertönte ein Pochen aus der Eichentruhe.
Sofort zog Mina ihr Schwert, sprang auf die Truhe zu und hebelte den Deckel auf.
Instinktiv brach Jake aus seinem Versteck hervor und stürzte sich auf Mina. Er versuchte, sie zu packen, aber sie war zu schnell – mit einem harten Fausthieb schickte sie ihn zu Boden und presste ihm mit unbarmherziger Kraft einen Absatz ins Genick.
»Eure Widerspenstigkeit geht mir allmählich auf die Nerven«, knurrte sie durch die zusammengebissenen Zähne.
Bis auf das spärliche Licht, das ein paar pechschwarze Kerzen spendeten, war Zeldts Kabine stockdunkel. Der Raum war genauso prunkvoll wie schauerlich dekoriert: Eine komplette Wandseite wurde von Glasvitrinen eingenommen, in denen die einbalsamierten Köpfe getöteter Feinde zur Schau gestellt waren. Zeldt besaß Trophäen aus jedem Zeitalter. Es waren alte und junge Gesichter darunter, manche davon trugen noch ihre exotischen Kopfbedeckungen, und alle hatten sie den gleichen Ausdruck des Entsetzens in den Augen, für alle Zeiten konserviert in dem Moment, als sie kaltblütig hingerichtet worden waren.
Beinahe unsichtbar saß Zeldt an einem Schreibpult, auf dem eine Karte ausgebreitet lag. Neben ihm stand der Kapitän der Lindwurm und wartete auf letzte Befehle für die Reise.
Als Mina in Begleitung von zwei Wachen mit Jake und Topaz die Kabine betrat, blickte er nicht einmal auf. Mina trat neben ihren Herrn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Kerzenschimmer erhellte sein blasses Gesicht, als er kaum merklich den Kopf drehte. Ohne erkennbare Gefühlsregung wandte er sich wieder dem Kapitän zu, überreichte ihm die Seekarte und schickte ihn hinaus. Er warf noch einen letzten Blick auf ein Stück Pergament auf dem Pult, dann erhob er sich endlich und schritt auf seine Gefangenen zu, bis er Jake Auge in Auge gegenüberstand.
Jake sprach als Erster. »Euer Plan scheint nicht aufgegangen zu sein«, sagte er provozierend.
Zeldt erwiderte nichts.
»Sieht ganz so aus, als würde die Renaissance stattfinden wie geplant«, ließ Jake nicht locker. »Eine die Welt so tief greifend zum Positiven verändernde Entwicklung lässt sich wohl doch nicht so leicht aufhalten, wie Ihr dachtet, verehrter Prinz.«
»Jake«, flüsterte Topaz, »mach es nicht noch schlimmer für dich.«
Es kam ein Klopfen von der Tür. Ein finster dreinblickender Matrose verkündete: »Fünf Minuten bis zum Horizontpunkt«, und verschwand.
»Für gewöhnlich bekommen nur würdige Gegenspieler einen Platz in meiner kleinen Sammlung«, sagte Zeldt ganz ruhig und deutete mit ausladender Geste auf seine Trophäensammlung. »Gegner von einer gewissen Verve und Intelligenz. Und obgleich du eine solche Ehre nicht verdienst, könnte es mir eine Zeit lang gefallen, dein banales Antlitz mit all deiner fehlgeleiteten Hoffnung darin zu sehen. Es wäre ein sehr passender Beleg für meinen unerschütterlichen Glauben, dass die Finsternis stets obsiegen wird.« Zeldt senkte seine Stimme und deutete auf die grausigen Überreste des Kopfes eines Aristokraten aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Dieser feine Herr dort hat, wie selbst dir auffallen dürfte, seine besten Tage bereits hinter sich – die französische ›Einbalsamierkunst‹ scheint mir doch einiges zu wünschen übrig zu lassen –, doch könntest du, wie ich meine, den Gentleman durchaus für eine Weile ersetzen.«
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