»Zeldt?«, wiederholte Jake verblüfft. »Der, den mein Bruder finden wollte?«
»Genau der. Wir dachten, er wäre tot. Seit drei Jahren hat ihn niemand mehr gesehen. Aber irgendwo hier in Europa scheint er noch sehr lebendig zu sein. Und diese Katastrophe, die sich anbahnt … Er steckt dahinter …« Nathan musste kurz innehalten, bis der Schmerz wieder nachgelassen hatte. »Als ich die roten Kutten sah, wusste ich, dass er es ist.« Nathan deutete auf das Bündel unter Jakes Arm. »Diese Sachen haben einmal einem seiner Soldaten gehört. Und das da ist Zeldts Wappen.« Nathan deutete auf den Schild mit der Schlange.
»Als wir hier ankamen, habe ich einen Mann gesehen, der genau so eine Kutte trug«, erwiderte Jake. »Ich wollte Charlie auf den Kerl aufmerksam machen, aber da war er schon wieder verschwunden.«
Nathan blickte Jake fest in die Augen. »Zeldt ist das personifizierte Böse. Verstehst du, was ich sage? Das absolute Böse!«
Jake nickte.
»Nein, du verstehst gar nichts! Stell dir den schlimmsten Schlächter vor, von dem du je gehört hast, und dann jemanden, der noch tausendmal grausamer ist – dann weißt du, wovon ich spreche!«
»Wer ist dieser Mann?«
»Keine Zeit für Erklärungen. Seine Familie … eine Königsfamilie … und er ist noch nicht mal der Schlimmste …« Nathan drohte das Bewusstsein zu verlieren, aber das Kläffen des Hundes – jetzt noch viel näher – rüttelte ihn wieder wach. Er packte Jake am Arm. »Du musst zum Markusdom. Finde heraus, was deine Eltern entdeckt haben. Beichte, Markusdom, Amerigo Vespucci . Finde heraus, was das bedeutet.«
Jakes Gedanken überschlugen sich.
»Zieh die Kutte an. Verkleide dich als einer der Ihren.«
Jake nickte.
»Hast du die Schere?«, fragte Nathan.
Jake hielt die Schere hoch.
»Schneid dir die Haare ab, sobald sich eine Gelegenheit bietet, damit du unter ihnen nicht auffällst.«
Wieder nickte Jake, dem alles so unwirklich vorkam wie ein böser Traum.
Nathan zog einen kleinen Lederbeutel mit funkelnden Goldmünzen aus seinem Wams. »Hier, das dürfte reichen. Und nimm das hier mit. Damit kannst du Feuer machen«, sagte er und reichte Jake ein Gerät, das aussah wie eine Miniaturlaterne mit einem Feuerstein daran. »Pass gut darauf auf. Sonst wird die Geschichte der Menschheit einen finstereren Verlauf nehmen, als du dir auch nur im Entferntesten vorstellen kannst.«
»Aber, ich verstehe nicht … Was ist mit den anderen?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit den anderen ist! Hör zu: Ich würde dich nur aufhalten, also musst du allein weiter. Du bist unsere einzige Hoffnung.«
Das Bellen des Hundes war nur noch wenige Meter entfernt. Nathan legte Jake beide Hände auf die Schultern und blickte ihm fest in die Augen: »Sieh mal, Jake. Du scheinst ein Mann zu sein, der etwas taugt. Deine Eltern gehören zu den besten Agenten, die der Geheimdienst jemals hervorgebracht hat. Etwas davon muss auch in dir schlummern, kapiert?«
Jake nickte ein letztes Mal. Neben dem Bellen waren jetzt auch die Stimmen ihrer Verfolger zu hören.
»Ich sorge dafür, dass niemand dich verfolgt. Sie werden mich nicht töten, ich bin zu wertvoll für sie.« Nathan schaffte es gerade noch, seinen Degen zu ziehen. »Sieh dir nur mein schönes Wams an«, stammelte er und deutete auf einen langen, bluttriefenden Riss in dem grünen Seidenstoff. »Feinster Florentiner Brokat. Das Beste, was man für Geld kaufen kann. Was für eine Schande …«
Jake blickte den Kanal entlang in die Richtung, in die er gleich fliehen würde.
»Noch ein Letztes …«, keuchte Nathan mit seinem tiefen Südstaatenakzent und schien einen Moment lang nach den richtigen Worten zu suchen. »Es ist die Geschichte, welche die Dinge zusammenhält – sie ist der Leim, ohne den alles zerfällt. Alles! Ohne sie gibt es keine Zivilisation, und wir retten die Geschichte. Wir, die Geschichtshüter. Das ist die nackte Wahrheit und kein bloßes Gerede. Unsere Mission darf nicht scheitern.«
»Verstanden«, erwiderte Jake mit fester Stimme, und Nathan wusste, dass Jake ihm nichts vormachte.
»Und jetzt, geh. Geh!«
Genau in diesem Moment kam der Mastiff mit gefletschten Lefzen um die Ecke gejagt, die Soldaten in den roten Kutten direkt hinter ihm.
Nathan kam mühsam auf die Beine und hob mit letzter Kraft seinen Degen.
Jake sprang auf die Füße, rannte ein kurzes Stück den Kanal entlang und verschwand dann im Labyrinth der Gassen.
Inzwischen hatte der Mastiff zum Sprung angesetzt. Nathan wurde von den Beinen gerissen, und nur einen Wimpernschlag später war er von den Soldaten umzingelt. Nathan starrte noch einen Moment lang hinauf in von Blieckes vernarbtes Gesicht, dann verlor er das Bewusstsein.
Ohne nachzudenken oder auch nur nach links oder rechts zu blicken, rannte Jake die engen Gassen entlang, über Stufen und Brücken, und blieb erst stehen, als er eine Viertelstunde später den Canal Grande erreichte. Jake stand vor einem kleinen, von Zypressen umstandenen Platz, auf dem überall halb fertig geschnittene Steinblöcke lagen, die wohl für ein neues Gebäude bestimmt waren. Kutte, Brustpanzer und Schere hatte er immer noch unter den Arm geklemmt.
Angestrengt nach Luft schnappend suchte er mit den Augen den Platz ab. Der Canal Grande lag schimmernd im Mondlicht, die mächtigen Paläste zu beiden Seiten in tiefem Schlaf, und zu seiner Linken sah Jake den unverkennbaren Bogen der Rialtobrücke. Anscheinend war ihm niemand gefolgt.
Jake ließ sich am Fuß einer der Zypressen auf den Boden sinken. Allmählich begriff er das Ausmaß der Situation. Ihm fiel wieder ein, wie er als Achtjähriger einmal in einem riesigen Einkaufszentrum seine Eltern verloren hatte, und er dachte an die Angst, die ihn damals ergriffen hatte, während er auf der Suche nach ihnen verzweifelt durch den Irrgarten aus neonbeleuchteten Schaufenstern geirrt war. Damals hatte sein Verstand schließlich die Oberhand gewonnen: Er hatte gewusst, er würde seine Eltern finden, hatte gewusst, in welcher Straße er wohnte und dass alle um ihn herum dieselbe Sprache sprachen wie er.
Doch das hier war etwas anderes. Diesmal war er allein. So allein, wie man nur sein konnte. Jake war in einem fremden Land, in einer ihm unbekannten Stadt, in einem anderen Zeitalter, durch einen tödlichen Feind von seinen Freunden getrennt. Noch einmal zog er die Papiere seiner Eltern heraus und betrachtete die Fotos. Sie verschwammen vor seinen Augen. Jake wusste, er durfte auf keinen Fall die Kontrolle verlieren, und so fasste er einen Entschluss: Er durfte und er würde nicht verzweifeln, sondern seine Angst mit Vernunft niederkämpfen.
Nathan hatte gesagt, er solle zum Markusdom gehen, Jake sei ihre einzige Hoffnung. Und genau das würde er tun. Seine Eltern und die anderen finden. Nathan hatte ebenfalls gesagt, er wäre zu wertvoll, als dass Zeldts Soldaten ihn töten würden. Mit Sicherheit galt das auch für die anderen – sie waren alle zu wertvoll und deshalb noch am Leben, irgendwo.
Jake wusste, was er zu tun hatte, aber ihm war immer noch mulmig zumute. Immerhin waren die anderen Agenten, die weit erfahrener waren als er selbst, alle gefangen genommen worden. Er selbst war ein absoluter Neuling in diesem Metier. Mit seinen Chancen, den roten Häschern zu entkommen, stand es also nicht gerade zum Besten. Und dieser Prinz Zeldt war, wie Nathan ihm eingeschärft hatte, die Verkörperung des Bösen und hatte eine ganze Armee im Rücken. Jake hingegen war allein, ein Schuljunge, der sich ins sechzehnte Jahrhundert verirrt hatte. Wie in aller Welt sollte er das überleben?
»Hör auf! Genug jetzt!«, sagte Jake zu sich selbst. »Dir bleibt gar keine andere Wahl als zu überleben.«
Entschlossen nahm er die Schere zur Hand und rückte damit den braunen Locken zu Leibe, die seine Mutter so sehr liebte. Lautlos fielen sie auf das schmutzige Pflaster, und innerhalb weniger als einer Minute hatte Jake sich vom unbedarften Lockenschopf in einen jungen Soldaten verwandelt.
Читать дальше