Jake wusste genau, was sie meinte: Der Ausblick war atemberaubend. Er hatte das Gefühl, über den gesamten Ärmelkanal bis zum Atlantik sehen zu können.
Inzwischen betraten einer nach dem anderen auch die übrigen Geschichtshüter den Prunksaal. Die meisten von ihnen hatten sich frische Kleider angezogen. Charlie Chieverley trug eine Kniehose, einen Frack und einen karierten Schal um den Hals, was Jake an das Kostüm erinnerte, das er selbst bei einer Schultheateraufführung von Oliver! getragen hatte. Jupitus Cole, der wie immer die Etikette hochhielt, trug seinen vornehmsten Gesellschaftsanzug, an dessen Revers eine goldene Anstecknadel mit dem Emblem der Geschichtshüter prangte. Truman Wylder erschien im seidenen Smoking, und Océane Noires Pelerinen waren mittlerweile so breit, dass sie sich seitwärts durch die Eingangstür in den Saal zwängen musste. Außerdem waren noch etwa fünfzehn weitere Personen zugegen, die meisten davon im Erwachsenenalter und in Kleidung, die aus allen Jahrhunderten stammte.
»Weil wir hier am Nullpunkt im Verborgenen leben, dürfen alle Kleidung aus der Zeit tragen, aus der sie kommen«, erklärte Topaz. » C’est jolie, n’est-ce pas ?«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
Fasziniert beobachtete Jake, wie alle feierlich ihre Plätze einnahmen, und fühlte sich ein weiteres Mal an seine eigene kleine Galerie faszinierender Persönlichkeiten zu Hause in London erinnert. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass Menschen, die ihr Leben nach ihren eigenen Regeln lebten, die Welt reicher und interessanter machten, und die Gruppe, die sich hier gerade versammelte, war mit Abstand die außergewöhnlichste und skurrilste, die er je gesehen hatte.
»Hier ist noch ein freier Stuhl für dich«, rief Nathan vom anderen Ende des Tisches, und Jake nahm gegenüber von Nathan Platz. Er saß zwischen Charlie und einem Mann, der mit seinem breitkrempigen Hut und den langen Rüschenärmeln aussah wie einer der drei Musketiere. Selbst immer noch in Schuluniform und mit Schultasche auf dem Rücken, fühlte er sich nicht gerade wohl in dieser illustren Gesellschaft.
»Kein Grund zur Verunsicherung«, meinte Nathan quer über den Konferenztisch hinweg zu Jake, »das sind alles nur Weicheier hier.«
»Entschuldigung, habe ich was verpasst? Ich habe die Glocken nicht gehört. Haben sie schon geläutet?«, ertönte Roses Stimme von der Tür, während sie mit klimpernden Armreifen hereingeeilt kam. Mit ihrem Hirtenmantel, dem Batikkleid und der Reisetasche über der Schulter wirkte sie sogar noch mehr fehl am Platz als Jake. »O je, und jetzt bekomme ich nicht mal mehr einen Sitzplatz«, murmelte sie und blickte hilflos die Stuhlreihen entlang.
»Moment!«, ertönte Nathans Stimme. Er stand auf, holte einen Ersatzstuhl herbei und schob ihn zwischen Jupitus und Océane – sehr zum Missfallen der Letzteren, die Rose indigniert den Rücken zudrehte und sich mit einem lauten Schnauben die Nase putzte.
Mit einem Ruck drehten sich alle Augen wieder zur Tür, als Olivia, Gallianas Windhündin, leichten Schrittes hereingetippelt kam. Sie umrundete einmal den Tisch, hüpfte auf ein kleines Podest neben dem Stuhl der Kommandantin und schaute mit leuchtenden Augen in die Runde.
Schließlich betrat auch Galliana Goethe den Saal. Sie stellte sich hinter ihren Stuhl, fasste mit beiden Händen die Lehne und sagte: »Einen guten Morgen allerseits. Als Erstes möchte ich, vor allem im Namen derer, die noch nicht das Vergnügen hatten, ihn kennenzulernen, den jüngsten Neuzugang unserer Organisation begrüßen: Mr Jake Djones. Bitte tut das Eure, um Mr Djones’ Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten. Er dürfte in den letzten Tagen sicherlich schon genug zu verdauen gehabt haben.«
Ein allgemeines Willkommensgemurmel erhob sich, Rose lächelte Jake stolz an, und Jupitus warf ihm einen schnellen Blick aus dem Augenwinkel zu.
»Lasst mich gleich zur Sache kommen«, fuhr Galliana fort. »Wie die meisten von euch bereits wissen, werden zwei unserer Agenten vermisst. Zwei Wochen lang hatten wir von Mont Saint-Michel aus Gerüchte in diversen Meslith-Kanälen verfolgt, in denen immer wieder von einem ›katastrophalen‹ Ereignis die Rede war. Venedig wurde mehrmals erwähnt, und der Juli des Jahres 1506.«
»Und diese Gerüchte waren glaubhaft?«, fragte Jupitus, ohne irgendjemanden dabei direkt anzusehen.
Galliana hielt kurz inne, dann erwiderte sie seufzend: »Auf jeden Fall glaubhaft genug, dass ich mich veranlasst sah, sie vor Ort überprüfen zu lassen, weshalb Alan und Miriam Djones vor vier Tagen an Bord der Mystère zu einem routinemäßigen Aufklärungseinsatz entsandt wurden.«
Wieder fühlte Jake einen gewissen Zorn in sich aufwallen, weil seine Eltern ihn derart getäuscht hatten. Einigen der Anwesenden schien das nicht zu entgehen, und sie bedachten Jake mit fragenden Blicken.
»Am Tag nach ihrer Ankunft in Venedig erhielten wir folgendes Meslith-Kommuniqué«, fuhr Galliana fort, setzte ihre Brille auf und las von einem Stück Pergament: »Code Purpur …«
Ein lautes Keuchen ertönte im Saal, beunruhigte Blicke schossen hin und her. Selbst der sonst so kühle Mr Cole nahm hastig einen Schluck aus seinem Wasserglas und verschluckte sich prompt daran.
Jake schien der Einzige zu sein, dem die beiden Worte rein gar nichts sagten, weshalb Charlie ihm ins Ohr flüsterte: »Code Purpur ist nach Orange und Rot die höchste Alarmstufe.«
»Code Purpur«, wiederholte Galliana und las weiter: »Findet Gipfel von Superia. Höchste Gefahr. Bekräftige: Code Purpur.« Nach diesen Worten nahm sie ihre Brille ab und reichte Jupitus das Stück Pergament, der es, mit wie immer undurchdringlichem Gesichtsausdruck, aufmerksam studierte.
»Dieses Kommuniqué erreichte uns vor drei Tagen … seitdem haben wir nichts mehr von den Agenten Djones und Djones gehört.« Galliana machte erneut eine kurze Pause, weil aller Augen sich auf Jake gerichtet hatten. »Als Sicherheitsvorkehrung habe ich die vorübergehende Schließung des Londoner Büros angeordnet, bis der Kontakt zu ihnen wiederhergestellt ist.«
»Ihr meint, falls die beiden sich gezwungen sahen, ein paar Geheimnisse auszuplaudern?«, hakte Jupitus boshaft nach.
»Ihr wisst genau, warum«, erwiderte die Kommandantin knapp. »Unsere Statuten legen eindeutig fest, dass sich im Falle eines Code Purpur alle in Europa tätigen Agenten auf Mont Saint-Michel einzufinden haben und gleichzeitig alle europäischen Büros vorübergehend geschlossen werden. Ich habe lediglich das Protokoll befolgt, das ist alles.«
»Sir, darf ich?«, fragte Topaz und streckte eine Hand in Jupitus’ Richtung, der ihr daraufhin das Kommuniqué reichte. »Findet Gipfel von Superia«, wiederholte sie laut. »Was ist dieses Superia? Könnte es sich dabei um einen Berg handeln?«
In den Gesichtern der anwesenden Agenten spiegelte sich dieselbe Ratlosigkeit wie in dem ihren.
»Wenn dem so ist«, antwortete Galliana, »haben wir nicht die geringste Ahnung, wo er sich befindet.«
»Ich persönlich zumindest«, ließ Jupitus sich vernehmen, »habe noch nie davon gehört.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er eigentlich gemeint hatte: »Und wenn ich diesen Ort nicht kenne, kennt ihn niemand.«
»Wäre es denkbar, dass dieser Code Purpur oder das Verschwinden der beiden Agenten auf irgendeine Weise mit Zeldt und der Schwarzen Armee in Verbindung stehen?«, fragte Nathan.
Jake hatte in diesem Moment zufällig in Topaz’ Richtung geschaut, und auch wenn es kaum zu sehen gewesen war: Bei der Erwähnung des Namens »Zeldt« war ein Schatten über ihre Augen gehuscht, und ihre Mundwinkel hatten kurz gezittert.
»Darauf gibt es, zumindest bis jetzt, noch keine greifbaren Hinweise. Wie ihr alle wisst, wurde Zeldt seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Die letzte Sichtung geschah im Holland des Jahres 1689, seither gilt er offiziell als tot«, beantwortete Galliana Nathans Frage in geschäftsmäßigem Ton. »Nach sorgfältiger Erwägung aller Optionen …«
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