»Ich habe Männer beim Schießen mit meinem … Gatten beobachtet. Ja, ich glaube, ich komme damit klar.«
»Gut«, sagte Dodger. »Richte das offene Ende auf jemanden, den du nicht magst – das genügt gewöhnlich. Wenn alles klappt, sollte ich gegen Mitternacht in der Lage sein, zu dir zu kommen. Mach dir keine Sorgen! Das Schlimmste hier unten bin derzeit ich, und ich stehe auf deiner Seite. Du wirst Stimmen hören, aber bleib still und im Verborgenen. Ich pfeife, wenn ich zu dir komme, daran erkennst du mich. Wir gehen vor wie geplant …«
Sie küsste ihn und sagte: »Weißt du, Dodger, bestimmt wäre auch dein erster Plan gelungen.« Demonstrativ streifte sie den Ring über, den sie beim Toshen gefunden hatte, und dann ging sie und ließ sich von den etwas helleren Ziegeln den Weg durch die Dunkelheit weisen.
Dodger machte sich schnell ans Werk. Er lief durch die Kanalisation zu der Stelle zurück, wo er Charlie mit großem Nachdruck daran gehindert hatte, eine Abzweigung zu nehmen. Was er dort aus einem Versteck holte, von Lavendelbüscheln umgeben, waren die sterblichen Überreste der blonden jungen Frau, die genauso gekleidet war wie Simplicity. Er schob ihr den goldenen Ring auf den Finger, den wundervollen Ring mit den Adlern im Wappen.
Jetzt kam der üble Teil. Er holte die Pistole der Ausländerin hervor, atmete mehrmals tief durch und schoss der Leiche zweimal ins Herz, denn der Ausländer würde, um auf Nummer sicher zu gehen, zweimal schießen. Dann schoss er ein drittes Mal, fast ohne hinzusehen: auf die eine Seite des Gesichts, wo die Ratten damit begonnen hatten … das zu tun, was Ratten bei einer leckeren Leiche zu tun pflegten. »Es tut mir leid«, flüsterte er. Dann wandte er sich einem anderen Versteck hinter dem Unrat zu, der sich in diesem Kanal angesammelt hatte, und holte einen Eimer mit Schweineblut hervor. Er kippte ihn aus und versuchte dabei, nicht anwesend zu sein, zu einem tanzenden Phantom zu werden, das beobachtete, wie jemand tat, was er tat, denn: Sooft er sich auch sagte, dass dies eigentlich nichts Unrechtes war – ein Teil von ihm widersprach.
Und dann eilte er durch den Tunnel zurück, setzte sich und weinte und hörte ein Platschen, verursacht von Leuten, die durchs Abwasser liefen. Interessanterweise war es Charlie, gefolgt von einem Constable, Mister Disraeli und dem jungen Joseph Bazalgette. Sie fanden Dodger in Tränen aufgelöst, in Tränen, die von ganz allein kamen.
»Ja«, sagte Dodger und schluchzte. »Sie ist tot, sie ist wirklich tot. Ich habe alles versucht und mein Bestes gegeben, aber …«
Eine Hand legte sich auf Dodgers Nacken, und Charlie fragte: »Tot?«
Dodger blickte auf seine Stiefel. »Ja, Charlie, sie wurde erschossen. Ich konnte es nicht verhindern. Es war … der Ausländer, ein wahrer Mörder.« Er blickte auf, und die Tränen in seinen Augen glänzten im Laternenschein. »Was sollte ich gegen einen berufsmäßigen Mörder ausrichten?«
Charlie musterte Dodger zornig. »Sagst du mir die Wahrheit, Dodger?«
Daraufhin hob Dodger den Kopf noch etwas höher. »Es geschah alles so schnell, dass es wie in einem Nebel war.«
Charlies Gesicht befand sich plötzlich dicht vor Dodgers Nase. »In einem Nebel, sagst du?«
»Ja, in dem Nebel, in dem die Leute sehen, was sie sehen wollen.« Entdeckte er etwa die Andeutung eines Lächelns in Charlies Augen? Dodger hoffte es.
Doch der Mann fragte: »Aber es gibt eine Leiche?«
Dodger nickte traurig. »Ja, die gibt es leider. Ich kann dich zu ihr bringen, ja, ich glaube, das sollte ich sofort tun.«
Charlie senkte die Stimme. »Diese Leiche …«
Dodger seufzte: »Die Leiche einer armen jungen Frau … Ich werde die Schuldigen finden und mit deiner Hilfe zur Rechenschaft ziehen, aber was Simplicity betrifft … Ich fürchte, du wirst sie niemals lebend wiedersehen.«
Er sprach diese Worte langsam und bedächtig aus, behielt dabei Charlie im Auge, der erwiderte: »Ich kann nicht behaupten, von deinen Worten begeistert zu sein, Dodger, aber hier ist ein Constable. Zeig uns den Weg!« Er wandte sich an Disraeli, der fast zurückwich, und sagte: »Komm, Ben, als Säule des Parlaments solltest du dies mit eigenen Augen sehen.« In diesen Worten lag fast die Schärfe eines Befehls, und einige Minuten später erreichten sie die Leiche, die in Schlamm und Blut lag.
»Gütiger Gott!«, stieß Mister Disraeli hervor und gab sich alle Mühe, entsetzt zu wirken. »Mir scheint, Angelas Bediensteter ist tatsächlich … Miss Simplicity gewesen.«
»Wenn Sie gestatten, Sir … Warum hat sich hier unten eine als Mann verkleidete junge Frau herumgetrieben?«, fragte der Constable, denn er war Polizist, obwohl er derzeit wie ein Constable aussah, der sich in einer Situation befand, die mindestens einen Sergeanten erforderte.
Charlie wandte sich zu ihm um. »Ich glaube, Miss Simplicity war eine junge Frau, die wusste, was sie wollte. Aber ich bitte Sie alle, um Miss Coutts willen … Es soll nicht bekannt werden, dass Simplicity so gekleidet war, als sie starb.«
»Auf keinen Fall«, verkündete Mister Disraeli. »Dass eine junge Frau ermordet wurde, ist schlimm genug, aber noch dazu eine, die Hosen trug … Wohin soll das noch führen?« Aus diesen Worten sprach ein Politiker, der sich fragte: Was denkt die Öffentlichkeit bloß von mir, wenn sie erfährt, dass ich mich hier unten aufhalte und in diese Affäre verwickelt bin?
»Bestens geeignet für eine arbeitende junge Frau«, sagte Dodger. »Wenn Sie wüssten! Ich habe Frauen auf den Kohlekähnen arbeiten gesehen, und es waren stramme, starke Frauen. Niemand traut sich, es ihnen zu verbieten, und das war auch besser so, denn einige von ihnen besaßen Fäuste, die jeden Mann umgehauen hätten.«
Charlie wandte sich wieder der Leiche zu. »Nun«, sagte er, »wir sind uns alle einig, dass diese Dame, die eine Hose trägt, Miss Simplicity ist. Aber ihr Tod … Was meinen Sie, Constable?«
Der Polizist sah erst Charlie und dann Dodger an. »Dies ist eine Schusswunde, ohne jeden Zweifel, und es gibt noch mindestens eine weitere. Aber wer hat geschossen? Das wüsste ich gern.«
»Oh, nun, für die Antwort auf diese Frage muss ich die Herren bitten, mir nach dort drüben zu folgen«, sagte Dodger. »Wenn Sie bitte die Klappen Ihrer Laternen ganz öffnen würden … Dann sehen Sie eine gefesselte Dame, die Sie als den Ausländer identifizieren werden.«
Das überraschte selbst Charlie. »Unmöglich!«
»Sie hat es mir selbst gesagt«, erwiderte Dodger. »Und neben ihr liegt Beweisstück B, ihr Komplize. Ich weiß nur, dass er Deutsch spricht, mehr nicht. Aber ich schätze, er wird nur zu gern bereit sein, Ihnen alles zu erzählen, denn soweit ich weiß, hat er nichts mit Simplicitys Tod zu tun und auch kein anderes Verbrechen in London begangen. Abgesehen von dem Versuch, mich zu ermorden.« Er hob die Pistole und sagte: »Dies ist die Tatwaffe, meine Herren. Ach, wenn ich doch nur hätte verhindern können, dass Miss Si… Miss …«
Dodger begann zu weinen, und Charlie klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Eine Pistolenkugel konntest du nicht aufhalten, so ist das nun einmal. Aber dafür hast du es geschafft, die Übeltäter dingfest zu machen.« Er schniefte und fuhr so leise fort, dass der Constable ihn nicht hörte: »Du hast uns ganz offensichtlich die Wahrheit gesagt, aber ich habe die eine oder andere Leiche gesehen – und ob ich das habe! –, und diese erscheint mir … nun, nicht mehr ganz frisch zu sein …«
Dodger blinzelte und sagte: »Ja, ich glaube, es liegt an den miasmatischen Effusionen. Die Abwasserkanäle stecken voller Tod und Zerfall, und das kriecht überallhin, ob man will oder nicht.«
»Miasmatische Effusionen«, wiederholte Charlie und sprach wieder lauter. »Hast du das gehört, Ben? Was soll man dazu sagen? Wir alle wissen, dass Dodger Miss Simplicity auf keinen Fall etwas angetan hätte. Es ist kein Geheimnis, dass ihm sehr an ihr gelegen war. Ich hoffe also, dass du mein Mitgefühl für diesen jungen Mann teilst, dem es trotz des Tods seiner Geliebten gelang, einen gefährlichen Killer zur Strecke zu bringen.« Er fügte hinzu: »Was meinen Sie, Constable?«
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