Dann, als die Menschen um sie herum und an ihr vorüberschlurften, fiel ihr Blick völlig unvermittelt auf die weißen Marmorfiguren, die sich vor ihr erhoben. Der Anblick raubte ihr den Atem und ließ sie aufstöhnen. Die Strahlen der morgendlichen Dämmerung beschienen sie, so als wäre die Sonnen eigens aufgegangen, um ihre erhabenen Formen in ihrer ganzen Herrlichkeit zu umschmeicheln.
Caras Finger gruben sich schmerzhaft in Kahlans Arm, als auch sie von dem Anblick ergriffen wurde. Die Statue des Mannes und der Frau überwältigte mit ihrer geistigen Größe Kahlans Fantasie.
Sie fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, dann brach sie, wie die Menschen ringsherum, angesichts der Erhabenheit, Würde und Schönheit dessen, was dort vor ihr stand, ganz offen in Tränen aus. Die Statue war all das, was die Bildhauerarbeiten an den Wänden ringsum nicht waren. Großzügig und in aller Offenheit bot sie alles dar, was jene verwehrten.
LEBEN stand auf dem Sockel geschrieben.
Kahlan, unter Tränen, musste schwer nach Atem ringen, um wieder Luft zu bekommen. Sie klammerte sich an Caras Arm und Cara an ihren, und so hielten sie sich beide aneinander fest, um sich zu stützen, als sie von der Menge in einem Strom allgemeiner Gefühlsaufwallung mitgerissen wurden. Der Mann in der Statue war nicht Richard, hatte aber große Ähnlichkeit mit ihm. Die Frau war nicht Kahlan, aber sie war ihr ähnlich genug, dass Kahlan merkte, wie sie vor den anderen, die sie ebenfalls sahen, errötete.
»Bitte schaut sie Euch an und geht dann weiter, damit die anderen auch einen Blick auf sie werfen können«, wiederholten die etwas seitlich stehenden Männer ein ums andere Mal. Sie trugen keine Uniformen und sahen ebenso abgerissen aus wie alle anderen. Es schienen ganz gewöhnliche Bürger zu sein, die einfach eingeschritten waren, um zu helfen.
Die Frau, die ihnen das Brot angeboten hatte, fiel weinend auf die Knie. Respektvoll half man ihr wieder auf, damit sie weitergehen konnte. Wahrscheinlich hatte die Frau, da sie in der Alten Welt lebte, noch nie ein Ding von solcher Schönheit zu Gesicht bekommen.
Als Kahlan, unfähig, die Augen von ihr zu lösen, die Statue mit zögernden Schritten umrundete, streckte sie die Hand aus, um sie wie alle anderen zu berühren. Fortgerissen von der Menge, streifte sie mit den Fingern das in Stein wiedergegebene Fleisch und wusste, dass auch Richards Finger dort gelegen hatten. Und jetzt strömten ihre Tränen noch umso heftiger.
Dann sah Kahlan im Vorübergehen, dass auf der Rückseite des halbrunden Zifferblatts Worte standen:
»Dein Leben gehört allein dir. Steh auf und lebe es.«
Viele, die sie sahen, hatten ebendiese Worte auf den Lippen.
Die Menge drängte unablässig weiter über die Stufen nach oben und zwang die Menschen in unmittelbarer Nähe der Statue, weiterzugehen. Männer im hinteren Teil der Menge geleiteten Schaulustige durch die Säulen und den rückwärtigen Teil des noch nicht fertig gestellten Palastes nach draußen und schufen damit Platz für andere, die nachrückten, um die Statue in Augenschein zu nehmen.
»Ich wünschte, Benjamin könnte das sehen«, sagte Cara mit Tränen in ihren blauen Augen.
Ein Anfall unbändigen Gelächters überwältigte Kahlan. »Gerade wollte ich sagen: ›Ich wünschte, Richard könnte das sehen.‹«
Cara fiel in ihr Lachen ein, als sie von dem Menschenstrom fortgerissen wurden.
Kamil ergriff Kahlans Hand. Sie sah, dass er auch Cara bei der Hand nahm.
»Ja«, sagte er mit Nachdruck, »die hat Richard gemacht.«
»Und wohin jetzt?«, fragte Kahlan ihn. »Wo, glaubst du, können wir ihn finden?«
»Schätze, wir sollten uns wieder zurück zur Werkstatt des Schmieds durchschlagen. Ich hoffe doch, dass Richard dort auftauchen wird. Wenn nicht, wird Victor wissen, wo er sich befindet.«
Kamils Worte, »Die hat Richard gemacht«, klangen ihr noch immer freudig durch den Kopf.
Richard kletterte durch das hohe Fenster und sprang hinunter auf den Boden, wo seine Stiefel mit einem dumpfen Aufprall landeten. Er konnte kaum glauben, dass er die ganze Nacht unter einer Plane auf der Ladefläche eines Wagens geschlafen hatte; ebenso wenig wollte er glauben, dass Jori ihn nicht geweckt hatte, damit er nach Hause gehen konnte, als sie ganz in der Nähe vorbeigekommen waren. Vermutlich hatte der Mann gedacht, das sei nicht seine Aufgabe, und hatte es deshalb einfach nicht getan. Richard seufzte. Möglicherweise hatte Jori auch gar nicht gewusst, dass er hinten auf der Ladefläche lag.
Richard klopfte sich ab. Er stand draußen vor dem Gebäude des Fuhrunternehmens, wo er gleich nach seiner Ankunft in Altur’Rang gearbeitet hatte und in dem er die ganze Nacht über eingeschlossen gewesen war. Natürlich hatte er geschlafen und es deshalb nicht bemerkt, dass Jori ihn eingeschlossen hatte.
Richard wusste nicht wohin – nach Hause oder zum Ruhesitz. Der strahlende Sonnenaufgang ließ den Himmel orange und violett erglühen; vermutlich wäre es unsinnig, nach Hause zu gehen, er würde nur zu spät zur Arbeit kommen. Also beschloss er, dass es vernünftiger wäre, gleich dorthin zu gehen.
Arbeit. Welche Arbeit eigentlich? Dies war der Tag der Feierlichkeiten, der Weihung. Sobald Bruder Narev die Statue zu Gesicht bekäme, würde Richard sich keine Gedanken mehr um Arbeit zu machen brauchen.
Wenn er fortliefe und zu fliehen versuchte, würde dies, das wusste er, nur Niccis Zorn erregen, und Kahlans Leben wäre verwirkt. Über ein Jahr hatte er jetzt mit Nicci zusammen verbracht – ebenso lange, wie er mit Kahlan zusammen gewesen war –, und Nicci hatte ihm wiederholt seine Alternativen deutlich gemacht. Stets war Kahlans Leben der Preis, der das Zünglein an der Waage bildete.
Im Grunde hatte Richard keine Wahl. Wenigstens würde er Victors Gesicht zu sehen bekommen, wenn dieser die Statue erblickte. Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln; es war die einzige angenehme Aussicht, die der Tag bereithielt.
Aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Tag in jenem feuchten, dunklen Loch enden, in dem er schon einmal gesessen hatte. Der Gedanke ließ ihn mitten im Schritt innehalten: Er wollte nicht noch einmal an diesen Ort zurück. Richard ertrug es nicht, eingesperrt zu sein – schon gar nicht an einem so beklemmenden Ort. Keine dieser Aussichten behagte ihm, zusammen waren sie geradezu erschreckend.
So beängstigend die Aussicht auf ein solches Schicksal war, er hatte die Statue in bewusster Absicht und mit Vorbedacht geschaffen – und in Kenntnis des Preises, den er wahrscheinlich am Ende dafür würde zahlen müssen. Was er erreicht hatte, war diesen Preis wert, denn Sklaverei war kein Leben. Nicci hatte ihm damals versichert, dass ihre Frage mit seinem Tod oder seiner Entscheidung für den Tod an sich bereits beantwortet sei und sie Kahlan kein Leid zufügen würde. Nun hatte Richard keine andere Wahl, als auf dieses Versprechen zu vertrauen.
Die Statue existierte, das allein zählte. Das Leben existierte. Das war es, was die Menschen erkennen mussten. So viele Menschen in der Alten Welt sollten erkennen, dass das Leben existierte und gelebt werden musste.
Für diese frühe Morgenstunde herrschte in den Straßen von Altur’Rang ein ungewöhnliches Maß an Betriebsamkeit. Ab und zu eilten schwer bewaffnete Trupps der Stadtwache durch die Straßen. Eine große Anzahl von Menschen war anlässlich der Weihungsfeierlichkeiten in die Stadt gekommen; vermutlich war das der Grund, weshalb so viele Leute die Straßen bevölkerten.
Die Gardisten schenkten ihm keinerlei Beachtung, doch das würde sich, wie er wusste, bald ändern.
Als Richard beim Ruhesitz anlangte, bot sich ihm ein schockierender Anblick: Das sich über Meilen erstreckende offene Gelände wimmelte von Menschen. Wie Ameisen um ausgelaufenen Honig drängten sie sich von allen Seiten bis an die Palastmauern. Er vermochte nicht einmal ansatzweise abzuschätzen, wie viele Menschen die umliegenden Hügel bevölkerten. Das bunte Spiel der Farben zu beobachten, dort, wo er zuvor nur braune Erde und grünen Winterroggen gesehen hatte, war verwirrend. Er hatte gar nicht gewusst, dass so viele Menschen zur Weihung kommen wollten. Andererseits hatte er monatelang Tag und Nacht gearbeitet – wie hätte er erfahren sollen, was die Menschen vorhatten?
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