»Es ist ein kleiner Junge«, stellte Richard erstaunt fest.
Die Störung bewog einen der Sprecher, Richard einen mörderischen Blick zuzuwerfen. »Nur ein Kind ist unverdorben genug, um zu wahrer Weisheit zu gelangen.« Beifälliges Nicken allenthalben im Kellersaal.
Richard warf Kahlan einen heimlichen Seitenblick zu.
Einer der Sprecher ließ sich vor der Plattform auf die Knie nieder und verneigte sein kahles Haupt. »Weiser, wir sehen uns gezwungen, dich um Unterweisung zu ersuchen, denn einige aus unserem Volk möchten einen Krieg beginnen.«
»Krieg ist niemals eine Lösung«, antwortete der Weise mit frömmelnder Stimme.
»Vielleicht möchtest du seine Gründe hören.«
»Es gibt keinen stichhaltigen Grund für das Kämpfen. Krieg kann niemals eine Lösung sein. Krieg ist das Eingeständnis des eigenen Scheiterns.«
Verlegen wichen die Anwesenden ein Stück zurück; offenbar erfüllte es sie mit Unbehagen, den Weisen mit solch geistlosen Fragen zu bedrängen, Fragen, die er offenbar keine Mühe hatte, mit seiner kindlichen Weisheit, die ihre eigene Lasterhaftigkeit augenblicklich offenbar werden ließ, zu klären.
»Sehr weise. Du hast uns Weisheit in ihrer wahren, schlichten Vollkommenheit gezeigt. Alle Menschen täten gut daran, diese Wahrheit zu achten.« Der Sprecher neigte abermals sein Haupt. »Wir haben es diesen Leute nahezubringen versucht ...«
»Wieso trägst du eigentlich eine Augenbinde?«, fiel Richard dem vor der Plattform knienden Sprecher unvermittelt ins Wort.
»Ich höre Zorn in deiner Stimme«, antwortete der Weise. »Du wirst nichts erreichen, ehe du nicht deinen Haß ablegst. Wenn du mit deinem Herzen suchst, wirst du in jedem das Gute finden.«
Richard drängte Owen vorzutreten. Dann langte er nach hinten, in die Gruppe der Männer, packte mit zwei Fingern Anson am Hemd und zog ihn ebenfalls nach vorn. Zu dritt traten sie bis vor die Plattform des Weisen. Richard war der einzige, der seine aufrechte Haltung beibehalten hatte. Er zwang den auf den Knien liegenden Sprecher mit dem Fuß, Platz zu machen.
»Ich fragte, warum du eine Augenbinde trägst«, wiederholte Richard.
»Man muß das Wissen leugnen, um für den Glauben Raum zu schaffen. Nur durch Glauben gelangt man zur reinen Wahrheit«, verkündete der Weise. »Man muß erst glauben, wenn man lernen und erkennen können will.«
»Wer etwas glaubt, ohne zu sehen, was wirklich ist«, erklärte Richard, »beweist damit nicht seine Klugheit, sondern lediglich seine selbst auferlegte Blindheit. Wenn man etwas lernen und begreifen will, muß man die Augen aufmachen.«
Die Männer rings um Kahlan schienen unangenehm berührt, daß Richard auf diese Art mit dem Weisen sprach.
»Beende den Haß, sonst erntest du stets nur neuen Haß.«
»Wir sprachen gerade über Wissen. Nach Haß habe ich dich nicht gefragt.«
Der Weise legte seine Hände wie im Gebet vor seinem Körper aneinander und senkte leicht das Haupt. »Wir sind von Weisheit umgeben, doch unsere Augen blenden uns, unser Gehör macht uns taub, unser Verstand denkt und hinterläßt uns unwissend. Unsere Sinne können uns bestenfalls täuschen; die äußere Welt vermag uns über das wahre Wesen der Dinge nichts mitzuteilen. Um eins zu werden mit der wahren Bedeutung des Lebens, mußt du den Blick erst blind nach innen richten und die Wahrheit erkennen.«
Richard verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich besitze Augen, deshalb kann ich nichts sehen. Ich habe Ohren, und deshalb bin ich taub. Und ich besitze einen Verstand, weswegen ich unfähig bin, Wissen zu erlangen.«
»Der erste Schritt zur Weisheit ist, zu akzeptieren, daß unsere Unzulänglichkeit es uns unmöglich macht, die Wirklichkeit in ihrem Wesen zu erkennen; aus diesem Grund kann nichts wahr sein, was wir zu wissen glauben.«
»Um zu überleben, müssen wir essen. Wie soll man der Fährte eines Hirsches im Wald folgen, um sich Nahrung zu beschaffen? Etwa, indem man sich ein Tuch vor die Augen bindet? Sich Wachs in die Ohren stopft? Indem man es im Schlaf versucht, damit sich der Verstand nicht mit unnötigem Nachdenken an der zu bewältigenden Aufgabe beteiligt?«
»Wir essen kein Fleisch. Es ist falsch, Tiere zu verletzen, nur um sich Nahrung zu beschaffen. Tiere haben das gleiche Recht auf Leben wie wir.«
»Ihr eßt also nur Pflanzen, Eier, Käse und Ähnliches mehr?«
»Selbstverständlich.«
»Und wie stellt ihr Käse her?«
Nur das Husten eines der Versammelten im Hintergrund des Raumes unterbrach das betretene Schweigen.
»Ich bin der Weise. Diese Art der Arbeit gehört nicht zu meinen Pflichten. Den Käse, den wir essen, machen andere.«
»Verstehe. Du weißt nicht, wie man den Käse für dein Abendessen macht, weil es dir niemand beigebracht hat. Einfach perfekt. Du sitzt also hier mit einer Binde um den Kopf und im Besitz eines reinen, nicht mit lästigem Wissen über dieses Thema befrachteten Verstandes. Wie also stellt man Käse her? Fliegt einem dieses Wissen einfach zu? Wird dir die Methode zur Käseherstellung durch blinde, göttliche Selbstschau zuteil?«
»Die Wirklichkeit erschließt sich nicht durch Ausprobieren ...«
»Eins würde mich interessieren: Angenommen du trägst eine Augenbinde, damit du nichts sehen kannst, du stopfst dir Wachs in die Ohren, um nichts zu hören, und streifst dicke Handschuhe über, so daß du nicht einmal etwas ertasten kannst, wie willst du dann etwas so Einfaches wie das Herausrupfen eines Rettichs bewerkstelligen, um dir etwas zu essen zu beschaffen? Oder besser noch, laß das Wachs in deinen Ohren weg, ebenso die Handschuhe. Behalte nur die Augenbinde um, und zeig mir wie du einen Rettich für deine Mahlzeit erntest. Ich führe dich sogar bis zur Tür, aber von da an bist du auf dich selbst gestellt. Komm schon, los. Versuch es.«
Der Weise benetzte seine Lippen. »Nun, ich ...«
»Wenn du dich selbst deines Sehvermögens beraubst, deines Gehörs und deines Tastsinns ... wie willst du dann Nahrung für deinen Lebensunterhalt anpflanzen, wie willst du auch nur Beeren oder Nüsse suchen? Wenn nichts wirklich ist, wie lange wird es wohl dauern, bis du, in Erwartung einer inneren Stimme der Wahrheit, die dich ernähren soll, verhungert wärest?
Beantworte mir meine Fragen, ›Weiser‹. Verrate mir, was dir dein blind nach innen gerichteter Blick bislang über das Herstellen von Käse enthüllt hat. Raus mit der Sprache, wir würden es gern hören.«
»Aber... die Frage ist nicht fair.«
»Ach nein? Eine Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns ist nicht fair? Das Leben erfordert, daß alle Lebewesen, um zu überleben, mit Erfolg bestimmte Ziele verfolgen. Ein Vogel, der es nicht schafft, einen Wurm zu fangen, stirbt. Das ist eine fundamentale Regel, die ebenso für Menschen gilt.«
»Mach deinem Haß ein Ende.«
»Eine Augenbinde trägst du ja bereits. Warum verstopfst du dir nicht auch noch die Ohren und summst eine Melodie vor dich hin, um nicht von irgendwelchen Gedanken behelligt zu werden?« Richard beugte sich weiter vor und senkte bedrohlich die Stimme. »Und dann möchte ich dich bitten, in deinem Zustand grenzenloser Weisheit zu erraten, was ich gleich mit dir machen werde.«
Der Junge stieß einen erschrockenen Schrei aus und krabbelte ein Stück nach hinten.
Energisch schob Kahlan sich zwischen Richard und Anson hindurch und stieg auf das Podium, ließ sich dort nieder, legte einen Arm um den verängstigten Jungen und zog ihn zu sich heran, um ihn wieder zu beruhigen. Der Junge schmiegte sich in ihre schützenden Arme.
»Du machst dem Jungen Angst, Richard. Sieh ihn dir doch an; er zittert am ganzen Leib.«
Richard zog dem Jungen die Augenbinde vom Kopf, der darauf, in seiner Verwirrung und Bestürzung, verängstigt zu ihm hochlinste.
»Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich freiwillig in die Fänge eines Raubtieres begibt. Nur der Mensch, vorausgesetzt, er war fortwährend solch unsinnigen Lehren ausgesetzt wie du, ist imstande, gegen die Werte zu verstoßen, die dem Erhalt des eigenen Lebens dienen. Trotzdem hast du dich instinktiv richtig verhalten, indem du bei meiner Frau Schutz gesucht hast.«
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