»Sie ist wohl davon überzeugt, im Vorteil zu sein«, sagte Siuan, »aber sie hat sich zu lange in ihrem Sieg gesonnt. Lelaine ist mit großen Anstrengungen zur hingebungsvollsten Dienerin der Amyrlin geworden, die es je gegeben hat. Wenn man sie sprechen hört, könnte man glauben, ihr beide wärt die engsten Vertrauten gewesen! Sie hat mich zu ihrer Gefolgsfrau gemacht, und bei jeder Zusammenkunft des Saals heißt es nur ›Egwene wollte dies!‹ und ›Erinnert euch an das, was Egwene sagte, als wir das taten‹.«
»Schlau.«
»Sogar brillant.« Siuan seufzte. »Aber wir wussten ja, dass eine von ihnen irgendwann die andere aus dem Weg räumen wird. Ich hetzte sie immer auf Romanda, aber ich weiß nicht, wie lange ich sie noch ablenken kann.«
»Tut Euer Bestes. Aber macht Euch keine Sorgen, wenn sich Lelaine nicht mehr ablenken lässt.«
Siuan runzelte die Stirn. »Aber sie verdrängt Euch von Eurem Platz!«
»Indem sie darauf aufbaut.« Egwene lächelte. Sie bemerkte, dass sich ihr Kleid braun verfärbt hatte und wechselte einen Herzschlag später zum Original zurück, ohne die Unterhaltung zu unterbrechen. »Lelaines Spiel wird nur dann Erfolg haben, wenn ich nicht zurückkehre. Sie benutzt mich als Quelle der Autorität. Bei meiner Rückkehr bleibt ihr gar keine andere Wahl, als meine Führung zu akzeptieren. Ihre ganzen Bemühungen laufen darauf hinaus, mich aufzubauen.«
»Und falls Ihr nicht zurückkehrt, Mutter?«, fragte Siuan leise.
»Dann wird es für die Aes Sedai besser sein, eine starke Anführerin zu haben«, sagte Egwene. »Falls sich Lelaine diese Stärke gesichert hat, dann soll es eben so sein.«
»Wisst Ihr, sie hat gute Gründe, dafür zu sorgen, dass Ihr nicht zurückkehrt«, meinte Siuan. »Bestenfalls wettet sie gegen Euch.«
»Nun, das kann man ihr kaum zum Vorwurf machen.« Egwene erlaubte sich für einen kurzen Moment, eine Grimasse zu schneiden. »Wäre ich draußen, wäre ich auch versucht, gegen mich zu wetten. Ihr müsst einfach mit ihr fertig werden, Siuan. Ich darf mich jetzt nicht ablenken lassen. Nicht, wo ich hier ein so großes Potenzial für den Erfolg sehe, nicht, wo ein Versagen einen so großen Preis kosten würde.«
Siuan kannte diesen sturen Ausdruck. Heute Nacht würde man Egwene nicht überreden können. Sie würde es einfach bei ihrer nächsten Begegnung erneut versuchen müssen.
Das alles - die Säuberung, die Asha'man, der Zerfall der Burg - ließ sie unbehaglich frösteln. Obwohl sie sich den größten Teil ihres Lebens auf diese Tage vorbereitet hatte, erschütterte es sie trotzdem, dass sie schließlich da waren. »Die Letzte Schlacht kommt tatsächlich«, sagte sie, hauptsächlich zu sich selbst.
»Das tut sie«, erwiderte Egwene ernst.
»Und ich muss ihr mit einem Bruchteil meiner früheren Macht entgegentreten.« Siuan verzog das Gesicht.
»Nun, vielleicht können wir Euch ja ein Angreal besorgen, sobald die Burg wieder vereint ist«, meinte Egwene. »Wir werden alles nehmen, was uns zur Verfügung steht, wenn wir gegen den Schatten reiten.«
Siuan lächelte. »Das wäre nett, ist aber nicht nötig. Vermutlich lamentiere ich nur aus Gewohnheit. Tatsächlich lerne ich gerade, mit meiner ... neuen Situation zurechtzukommen. Sie ist gar nicht so schwer zu ertragen, jetzt, da ich einige Vorteile darin entdeckt habe.«
Egwene runzelte die Stirn, als versuchte sie sich vorzustellen, welche Vorteile verringerte Macht haben könnte. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Elayne hat mir gegenüber einmal einen Raum in der Burg erwähnt, der mit Artefakten der Macht gefüllt ist. Ich nehme an, es gibt ihn wirklich?«
»Natürlich«, sagte Siuan. »Der Kellerlagerraum. Auf der zweiten Kelleretage, auf der nordöstlichen Seite. Ein kleiner Raum mit einer einfachen Holztür, aber Ihr könnt ihn nicht verfehlen. Er ist auf dem Gang der einzige, der verschlossen ist.«
Egwene nickte nachdenklich. »Nun, ich kann Elaida nicht mit roher Gewalt besiegen. Aber das ist gut zu wissen. Gibt es noch weitere bemerkenswerte Dinge zu berichten?«
»Im Augenblick nicht, Mutter«, sagte Siuan.
»Dann kehrt zurück und schlaft etwas.« Egwene zögerte. »Und das nächste Mal treffen wir uns in zwei Tagen. Hier im Speisesaal, obwohl wir uns vielleicht besser in der Stadt treffen sollten. Diesem Ort vertraue ich nicht. Wenn es eine Verlorene in unserem Lager gab, verwette ich die halbe Schenke meines Vaters, dass auch eine in der Weißen Burg spioniert.«
Siuan nickte. »Gut.« Sie schloss die Augen und erwachte gleich darauf blinzelnd in Brynes Zelt. Die Kerze war erloschen, und sie konnte Bryne auf seiner Pritsche auf der anderen Zeltseite leise atmen hören. Sie setzte sich auf und sah zu ihm hinüber, obwohl es viel zu dunkel war, um mehr als Schatten zu erkennen. Nach dem Gespräch über Verlorene und Asha'man beruhigte sie die Anwesenheit des standhaften Generals seltsamerweise.
Gibt es noch weitere bemerkenswerte Dinge zu berichten, Egwene?, dachte sie träge und stand auf, um ihr Kleid hinter dem Wandschirm gegen ihr Nachthemd auszutauschen. Ich glaube, ich könnte mich verliebt haben. Ist das bemerkenswert genug? Ihr erschien das seltsamer, als dass man den Makel entfernt hatte oder dass eine Frau Saidin lenkte.
Kopfschüttelnd schob sie das Traum- Ter'angreal zurück in sein Versteck, dann schlüpfte sie wieder unter die Decke.
Auf die Mäuse würde sie verzichten. Zumindest dieses eine Mal.
Eine kühle Frühlingsbrise kitzelte Perrins Gesicht. So eine Brise hätte den Geruch von Pollen und frischem Morgentau mit sich führen sollen, von Sprösslingen, die die Krume wendeten, wenn sie ins Licht drängten, von neuem Leben und wiedergeborener Erde.
Diese Brise brachte nur den Geruch von Blut und Tod.
Perrin wandte ihr den Rücken zu, kniete nieder und inspizierte die Wagenräder. Das Gefährt war eine stabile Konstruktion aus vom Alter gedunkeltem Hartholz. Es schien in gutem Zustand zu sein, aber er hatte gelernt, vorsichtig zu sein, wenn es um Ausrüstung aus Malden ging. Die Shaido lehnten Wagen und Ochsen nicht so rigoros ab wie Pferde, aber wie alle Aiel hielten sie viel davon, mit leichtem Gepäck zu reisen. Weder Karren noch Wagen hatten sie gewartet, und er hatte während seiner Inspektion mehr als nur einen Schaden entdeckt.
»Der Nächste!«, brüllte er, als er die Nabe des ersten Rades überprüfte. Die Bemerkung war an die Menschenmenge gerichtet, die darauf wartete, mit ihm sprechen zu können.
»Mein Lord.« Das war eine tiefe, raue Stimme, wie Holz, das gegen Holz schabte. Gerard Arganda, der Erste Hauptmann von Ghealdan. Er roch nach gut geölter Rüstung. »Ich muss auf das Thema unserer Abreise dringen. Erlaubt mir, mit Ihrer Majestät vorauszureiten.«
Die »Majestät«, auf die er sich bezog, war Alliandre, die Königin von Ghealdan. Perrin arbeitete weiter an dem Rad; im Zimmermannshandwerk kannte er sich nicht so gut aus wie im Schmiedehandwerk, aber sein Vater hatte jedem seiner Söhne beigebracht, bei Wagen die Anzeichen für Probleme zu erkennen. Besser, die Mängel vor dem Aufbruch zu richten, als auf halbem Weg liegen zu bleiben. Er fuhr mit den Fingern über das glatte braune Holz. Die Maserung war deutlich sichtbar, und er suchte mit tastenden Fingern nach Rissen. Alle vier Räder sahen gut aus.
»Mein Lord?«, fragte Arganda.
»Wir marschieren alle zusammen«, sagte Perrin. »So lautet mein Befehl, Arganda. Den Flüchtlingen werde ich nicht den Eindruck vermitteln, dass wir sie im Stich lassen.«
Flüchtlinge. Davon gab es mehr als einhunderttausend, um die man sich kümmern musste. Einhunderttausend! Beim Licht, das waren mehr Menschen, als im Umkreis der Zwei Flüsse lebten. Und er hatte die Aufgabe, jeden Einzelnen davon zu ernähren. Viele Männer verstanden einfach nicht, wie wichtig ein guter Wagen war. Er legte sich auf den Rücken und bereitete sich auf die Inspektion der Achsen vor, und das gab ihm einen Blick auf den bewölkten Himmel, der teilweise von Maldens in unmittelbarer Nähe befindlicher Stadtmauer versperrt wurde.
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