Ging es Leane gut? Jeden Augenblick konnte die falsche Amyrlin ihre Hinrichtung anordnen. Siuan wusste genau, wie boshaft Elaida sein konnte; noch immer durchfuhr sie ein Stich der Trauer, wenn sie an den armen Alric dachte. Hatte Elaida auch nur einen Funken Schuld verspürt, weil sie einen Behüter kaltblütig ermordet hatte, bevor die Frau, die sie gestürzt hatte, vollständig ihres Amtes enthoben worden war?
»Ein Schwert, Siuan?«, fragte Egwene plötzlich. »Das ist originell.«
Siuan entdeckte schockiert, dass sie ein blutiges Schwert hielt, vermutlich für Elaidas Herz beabsichtigt. Sie ließ es verschwinden, dann musterte sie Egwene. Das Mädchen sah wie eine Amyrlin aus, trug ein prächtiges goldenes Gewand, das braune Haar mit einem aufwendigen Perlengeschmeide geschmückt. Noch war ihr Gesicht nicht alterslos, aber Egwene wurde bereits sehr gut in der ruhigen Gelassenheit einer Aes Sedai. Tatsächlich schien sie darin seit ihrer Gefangennahme sogar beträchtlich besser geworden zu sein.
»Ihr seht gut aus, Mutter«, sagte Siuan.
»Danke«, erwiderte Egwene mit einem schmalen Lächeln. In Siuans Nähe verriet sie mehr über sich als bei anderen. Sie wussten beide, wie sehr sie auf ihren Unterricht angewiesen gewesen war, um so weit zu kommen.
Obwohl sie es vermutlich auch so geschafft hätte, musste Siuan zugeben. Nur nicht so schnell.
Egwene blickte sich in dem Raum um, dann verzog sie leicht das Gesicht. »Ich weiß, ich habe diesen Ort vorgeschlagen, aber in letzter Zeit habe ich genug von diesem Zimmer gesehen. Ich treffe Euch im Speisesaal der Novizinnen.« Sie verschwand.
Eine seltsame Wahl, aber dort würden sich kaum unerwünschte Ohren verbergen. Siuan und Egwene waren nicht die Einzigen, die Tel'aran'rhiod für verstohlene Begegnungen benutzten. Siuan schloss die Augen - eigentlich war das unnötig, aber es schien ihr zu helfen - und stellte sich den Speisesaal der Novizinnen vor, mit seinen Bankreihen und den schmucklosen Wänden. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie da, genau wie Egwene. Die Amyrlin setzte sich, und ein majestätisch gepolsterter Stuhl erschien hinter ihr und fing sie anmutig auf. Siuan fehlte das nötige Selbstvertrauen, etwas so Kompliziertes zu versuchen; sie nahm einfach auf einer der Bänke Platz.
»Ich finde, wir sollten uns öfter treffen, Mutter«, sagte sie und trommelte mit den Fingern auf den Tisch, während sie ihre Gedanken ordnete.
»Ach?«, meinte Egwene und setzte sich etwas aufrechter hin. »Ist etwas geschehen?«
»Sogar vieles, und ich fürchte, einiges davon riecht so streng wie der Fang der letzten Woche.«
»Erzählt.«
»Eine der Verlorenen war in unserem Lager«, sagte Siuan. Darüber hatte sie nicht so oft nachdenken wollen. Das Wissen ließ sie frösteln.
»Gab es Tote?«, erkundigte sich Egwene mit ruhiger Stimme, obwohl ihre Augen aus Stahl zu bestehen schienen.
»Nein, das Licht sei gesegnet! Nur die, von denen Ihr bereits wisst. Romanda hat die Verbindung herausgefunden. Egwene, diese Kreatur lebte einige Zeit verborgen unter uns.«
»Wer war es?«
»Delana Mosalaine«, sagte Siuan. »Oder ihre Dienerin, Halima. Eher Halima, denn ich kenne Delana seit langer Zeit.« Egwenes Augen weiteten sich kaum merklich. Halima hatte Egwene bedient. Egwene war von einer der Verlorenen berührt worden. Sie nahm die Neuigkeit gut auf. Wie eine Amyrlin.
»Aber Anaiya wurde von einem Mann getötet«, sagte Egwene. »Waren diese Morde anders?«
»Nein. Anaiya wurde nicht von einem Mann ermordet, sondern von einer Frau, die Saidin lenkte. Es muss so gewesen sein - nur so ergibt es einen Sinn.«
Egwene nickte langsam. Alles war möglich, wenn der Dunkle König seine Hand im Spiel hatte. Siuan lächelte zufrieden und stolz. Dieses Mädchen lernte, eine Amyrlin zu sein. Beim Licht, sie war die Amyrlin!
»Es gibt noch mehr?«
»Nicht, was dieses Thema angeht. Leider sind sie uns entkommen. An dem Tag verschwunden, an dem wir sie entdeckten.«
»Ich frage mich, was sie wohl gewarnt hat.«
»Nun, das hat mit einem der anderen Dinge zu tun, die ich Euch erzählen muss.« Siuan holte tief Luft. Das Schlimmste war ausgesprochen, aber das Nächste würde nicht einfacher zu verdauen sein. »An diesem Tag gab es eine Zusammenkunft im Saal, an der Delana teilnahm. Bei diesem Treffen verkündete ein Asha'man, er könnte einen Mann im Lager die Macht lenken spüren. Wir glauben, das hat sie alarmiert. Erst nach Delanas Flucht haben wir die Verbindung erkannt. Dieser Asha'man hat uns auch gesagt, dass sein Kamerad einer Frau begegnete, die Saidin lenken konnte.«
»Und warum war ein Asha'man im Lager?«, fragte Egwene kühl.
»Er war ein Gesandter«, erklärte Siuan. »Vom Wiedergeborenen Drachen. Mutter, es hat den Anschein, dass einige der Männer, die al'Thor folgen, Aes Sedai den Behüterbund aufgezwungen haben.«
Egwene blinzelte einmal. »Ja, gerüchtweise habe ich davon gehört. Ich hatte gehofft, dass diese Gerüchte übertrieben wären. Hat dieser Asha'man verraten, wer Rand die Erlaubnis gegeben hat, eine solche Abscheulichkeit zu begehen?«
Siuan verzog das Gesicht. »Er ist der Wiedergeborene Drache. Ich glaube nicht, dass er der Meinung ist, eine Erlaubnis zu brauchen. Aber zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass er anscheinend davon keine Ahnung hatte. Die Frauen, mit denen sich seine Männer verbunden haben, wurden von Elaida ausgesandt, die Schwarze Burg zu vernichten.«
»Ja.« Endlich zeigte Egwene den Hauch eines Gefühls. »Also stimmen die Gerüchte. Stimmen tatsächlich.« Ihr schönes Gewand behielt seine Form, aber die Farbe wandelte sich in ein dunkles Braun, das an die Kleidung der Aiel erinnerte. Egwene schien es nicht zu bemerken. »Hören Elaidas Katastrophen denn niemals auf?«
Siuan schüttelte nur den Kopf. »Man hat uns für die Frauen, mit denen sich al'Thors Männer verbunden haben, siebenundvierzig Asha'man zum Bund angeboten, sozusagen als Entschädigung. Kaum ein gerechter Handel, aber der Saal hat das Angebot trotzdem angenommen.«
»Was auch richtig war. Wir werden uns später mit dem Unsinn des Wiedergeborenen Drachen auseinandersetzen müssen. Vielleicht haben seine Männer ohne seinen direkten Befehl gehandelt, aber Rand muss dafür die Verantwortung übernehmen. Männer - die Frauen den Bund aufzwingen!«
»Sie behaupten, Saidin sei gereinigt«, fuhr Siuan fort.
Egwene hob eine Braue, widersprach aber nicht. »Ja, ich glaube, das könnte eine durchaus vorstellbare Möglichkeit sein. Natürlich werden wir da noch eine zusätzliche Bestätigung brauchen. Aber der Makel kam, als alles gewonnen erschien; warum sollte er nicht verschwinden, wenn anscheinend alles dem reinen Wahnsinn zum Opfer fällt?«
»Auf diese Weise habe ich es noch gar nicht gesehen«, sagte Siuan. »Nun, was sollen wir tun, Mutter?«
»Soll sich der Saal darum kümmern. Anscheinend hat er die Sache im Griff.«
»Er hätte sie besser im Griff, wärt Ihr wieder da, Mutter.«
»Das wird irgendwann geschehen«, sagte Egwene. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Finger auf ihrem Schoß, sah irgendwie viel älter aus, als ihr Gesicht hätte vermuten lassen. »Für den Moment liegt meine Arbeit hier. Ihr werdet dafür sorgen müssen, dass der Saal das tut, was er soll. Ich setze großes Vertrauen in Euch.«
»Und ich weiß es zu schätzen, Mutter«, sagte Siuan und ließ sich ihre Frustrationen nicht anmerken. »Aber ich verliere die Kontrolle über sie. Lelaine hat angefangen, sich als zweite Amyrlin in Position zu bringen - und sie tut es, indem sie vorgibt, Euch zu unterstützen. Ihr ist bewusst geworden, dass es ihr nützt, in Eurem Namen zu handeln.«
Egwene schürzte die Lippen. »Ich hätte gedacht, dass Romanda sich den Vorteil zunutze macht, wenn man bedenkt, dass sie die Verlorene entdeckt hat.«
Читать дальше