Ituralde stieg vom Pferd. Wie die meisten seiner Männer trug auch er die Kleidung eines Feldarbeiters - schlichte braune Hosen und Mantel, ausgeliehen von dem Mann, der Ituraldes Uniform als Teil der Falle getragen hatte.
Keine Uniform zu tragen fühlte sich seltsam an. Ein Mann wie dieser General Turan verdiente keinen Soldaten in Zivil. Ituralde verscheuchte den Botenjungen, damit er außer Hörweite ging, dann begab er sich allein zu dem Seanchaner.
»Ihr seid das also«, sagte Turan und schaute zu Ituralde hoch, sprach mit diesem gedehnten seanchanischen Akzent. Er war ein stämmiger Mann, alles andere als groß, mit spitzer Nase. Das kurz geschnittene schwarze Haar war an jeder Kopfseite zwei Fingerbreit geschoren, und der Helm lag neben ihm am Boden. Er wies drei weiße Federn auf. Mit unsicherer schwarzbehandschuhter Hand griff er nach oben, um sich das Blut vom Mundwinkel zu wischen.
»Ich bin es«, bestätigte Ituralde.
»In Tarabon bezeichnet man Euch als ›Großen Hauptmann‹.«
»Das ist richtig.«
»Es ist verdient«, sagte Turan und hustete. »Wie habt Ihr das gemacht? Unsere Späher ...« Das Husten verschluckte seine Worte.
»Raken«, sagte Ituralde, sobald er zu husten aufhörte. Neben seinem Feind ging er in die Hocke. Die Sonne war noch immer ein Splitter im Westen und tauchte das Schlachtfeld in rotgoldenes Licht. »Eure Späher sehen aus der Luft, und aus der Ferne lässt sich die Wahrheit leicht verbergen.«
»Das Heer hinter uns?«
»Größtenteils Frauen und Jugendliche«, sagte Ituralde. »Und eine große Zahl Bauern. Sie trugen die Uniformen meiner Truppen.«
»Und wenn wir umgekehrt wären und angegriffen hätten?«
»Das hättet ihr nicht getan. Eure Raken verrieten euch, dass ihr zahlenmäßig unterlegen wart. Besser die kleine Streitmacht vor euch zu verfolgen. Besser, zu der Stadt zu eilen, die euren Spähern zufolge kaum verteidigt wird, selbst wenn es bedeutet, die Männer fast bis zur Erschöpfung marschieren zu lassen.«
Turan hustete wieder und nickte. »Ja. Ja, aber die Stadt war verlassen. Wie habt Ihr die Truppen hineingeschafft?«
»Späher in der Luft können nicht in Häuser hineinsehen.«
»Ihr habt Euren Truppen befohlen, sich so lange drinnen zu verstecken?«
»Ja«, sagte Ituralde. »Im Wechsel durfte jeden Tag eine kleine Anzahl zur Arbeit auf die Felder.«
Turan schüttelte ungläubig den Kopf. »Euch ist klar, was Ihr getan habt«, sagte er. In seiner Stimme lag keine Drohung. Tatsächlich lag da eine ordentliche Portion Bewunderung. »Die Hochlady Suroth wird dieses Versagen niemals akzeptieren. Sie wird Euch jetzt brechen müssen, und wenn auch nur, um Ihr Gesicht zu wahren.«
»Ich weiß«, sagte Ituralde. »Aber ich kann euch nicht vertreiben, indem ich euch in euren Festungen angreife. Ihr müsst zu mir kommen.«
»Ihr begreift nicht, wie viele wir sind ...«, sagte Turan. »Was Ihr heute vernichtet habt, ist nur eine Brise verglichen mit dem Sturm, den Ihr ausgelöst habt. Heute sind genug von meinen Leuten entkommen, um Eure Tricks zu verraten. Sie werden nicht noch einmal funktionieren.«
Er hatte recht. Seanchaner lernten schnell. Ituralde hatte seine Überfälle in Tarabon wegen der schnellen seanchanischen Reaktion abbrechen müssen.
»Ihr wisst, dass Ihr uns nicht schlagen könnt«, sagte Turan leise. »Ich lese es in Euren Augen, Großer Hauptmann.«
Ituralde nickte.
»Warum dann also?«
»Warum fliegt eine Krähe?«
Turan hustete schwach.
Ituralde wusste, dass er seinen Krieg gegen die Seanchaner nicht gewinnen konnte. Seltsamerweise führte ihm jeder seiner Siege deutlich vor Augen, dass er am Ende verlieren würde. Die Seanchaner waren schlau, gut ausgerüstet und diszipliniert. Und vor allem waren sie hartnäckig.
In dem Moment, in dem sich diese Stadttore geöffnet hatten, hatte Turan wissen müssen, dass er zum Untergang verurteilt war. Aber er hatte sich nicht ergeben. Er hatte gekämpft, bis sein Heer zerbrach und sich in zu viele Richtungen zerstreute, als dass Ituraldes erschöpfte Truppen sie hätte einfangen können. Turan hatte es begriffen. Manchmal lohnte es sich einfach nicht, sich zu ergeben. Kein Mann hieß den Tod willkommen, aber ein Soldat konnte ein viel schlimmeres Ende erleiden. Die Heimat den Invasoren zu überlassen ... nun, Ituralde konnte das nicht tun. Nicht einmal, wenn der Kampf unmöglich zu gewinnen war.
Er tat, was er tun musste, wenn es getan werden musste. Und im Augenblick musste Arad Doman kämpfen. Sie würden verlieren, aber ihre Kinder würden für alle Ewigkeit wissen, dass sich ihre Väter gewehrt hatten. In hundert Jahren, wenn es zur Rebellion kam, würde dieser Widerstand wichtig sein. Falls sie kam.
Ituralde erhob sich und wollte zu seinen wartenden Soldaten zurückkehren.
Turan mühte sich ab und griff nach seinem Schwert. Ituralde zögerte, drehte sich wieder um.
»Werdet Ihr es tun?«, fragte Turan.
Ituralde nickte, zog das Schwert.
»Es war eine Ehre«, sagte Turan und schloss die Augen. Ituraldes mit dem Reiher gezeichnetes Schwert trennte einen Augenblick später den Kopf des Mannes von den Schultern. Turans Klinge wies ebenfalls einen Reiher auf, der gerade eben auf dem Stück Stahl zu sehen war, das der Seanchaner hatte herausziehen können. Es war schade, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatten, die Schwerter zu kreuzen - obwohl die vergangenen Wochen in einem anderen Maßstab eigentlich nichts anderes gewesen waren.
Ituralde säuberte das Schwert, dann schob er es zurück in seine Scheide. Als letzte Geste zog er Turans Schwert und stieß es neben dem gefallenen General in den Boden. Dann stieg er wieder in den Sattel, nickte dem Boten zum Abschied zu und suchte sich seinen Weg zurück über das im Schatten liegende Leichenfeld.
Die Raben hatten angefangen.
»Ich habe versucht, einige der Diener und Palastwachen zu ermutigen«, sagte Leane leise. Sie saß vor den Gitterstäben ihrer Zelle. »Aber es ist schwer.« Sie lächelte und sah Egwene an, die neben der Zelle auf einem Hocker saß. »Im Moment fühle ich mich nicht besonders anziehend.«
Egwenes Lächeln war trocken, und sie schien zu verstehen. Leane trug noch immer das Kleid, in dem man sie gefangen genommen hatte, und es war noch nicht gereinigt worden. An jedem dritten Morgen zog sie es aus und benutzte den morgendlichen Eimer mit Wasser - nachdem sie sich mit einem feuchten Lappen ordentlich gewaschen hatte -, um das Kleid zu reinigen. Aber ohne Seife waren einem Grenzen gesetzt. Sie hatte ihr Haar geflochten, damit es wenigstens den Anschein von Ordentlichkeit erweckte, konnte aber nichts wegen ihrer zersplitterten Nägel unternehmen.
Leane seufzte und dachte an die Vormittage, die sie damit verbracht hatte, verborgen vor allen Blicken nackt in der Zellenecke zu stehen und darauf zu warten, dass Kleid und Unterhemd trockneten. Nur weil sie eine Domani war, bedeutete das noch lange nicht, dass sie gern ohne einen Fetzen Stoff am Leib herumstolzierte. Eine anständige Verführung verlangte Geschick und Subtilität; Nacktheit benutzte keines davon.
Ihre Zelle war gar nicht so schlimm, was Zellen anging - sie hatte ein kleines Bett, Mahlzeiten, genug Wasser und einen Nachttopf, der jeden Tag ausgewechselt wurde. Aber sie durfte nie hinaus und wurde ständig von zwei Schwestern bewacht, die sie abgeschirmt hielten. Ihre einzige Besucherin war Egwene, wenn man einmal von jenen absah, die zu ihr kamen, um ihr Informationen über das Schnelle Reisen zu entlocken.
Die Amyrlin saß mit nachdenklichem Gesichtsausdruck auf ihrem Hocker. Und sie war die Amyrlin. Es war unmöglich, sie als etwas anderes zu betrachten. Wie konnte eine so junge Frau das so schnell gelernt haben? Die aufrechte Haltung, die selbstsichere Miene. Bei Kontrolle ging es weniger um die Macht, die man hatte, sondern eher um die Macht, die man zu haben vorgab. Tatsächlich ähnelte es sehr dem Umgang mit Männern.
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