»Habt Ihr ... etwas gehört?«, fragte Leane. »Was sie mit mir machen wollen?«
Egwene schüttelte den Kopf. Die beiden Gelben Schwestern saßen in der Nähe auf einer Bank und plauderten miteinander, angeleuchtet von einer Lampe auf dem Tisch neben ihnen. Leane hatte keine der Fragen ihrer Kerkerwächter beantwortet, und das Burggesetz regelte die Befragung von Schwestern ausgesprochen streng. Man konnte ihr nicht schaden, vor allem nicht mit der Macht. Aber man konnte sie einfach hier allein verfaulen lassen.
»Danke, dass Ihr mich immer am Abend besuchen kommt«, sagte sie und griff zwischen den Gitterstäben hindurch, um Egwenes Hand zu nehmen. »Ich glaube, ich schulde Euch meine geistige Gesundheit.«
»Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte Egwene, aber ihre Augen zeigten einen Hauch der Erschöpfung, die sie zweifellos verspürte. Einige der Schwestern, die Leane besucht hatten, hatten die Prügel erwähnt, die Egwene als »Buße« für ihre Insubordination auferlegt bekam. Und trotz der Schmerzen besuchte sie Leane beinahe an jedem Abend in ihrer Zelle.
»Ich werde Euch freibekommen, Leane«, versprach Egwene und hielt ihre Hand. »Elaidas Tyrannei kann nicht ewig andauern. Ich bin zuversichtlich, dass es bald damit ein Ende hat.«
Leane nickte, ließ los und stand auf. Egwene griff nach den Gitterstäben und zog sich auf die Füße; die Bewegung ließ sie leicht zusammenzucken. Sie nickte Leane zum Abschied zu, dann zögerte sie und runzelte die Stirn.
»Was ist?«, fragte Leane.
Egwene ließ das Gitter los und betrachtete ihre Handflächen. Sie schienen mit einer reflektierenden wächsernen Substanz beschmiert zu sein. Stirnrunzelnd sah Leane die Gitterstäbe an und entdeckte entsetzt Egwenes Handabdrücke auf dem Eisen.
»Was beim Licht ...«, sagte sie und stieß mit dem Finger gegen einen Eisenstab. Er verbog sich wie warmes Wachs am Rand eines Kerzenhalters.
Plötzlich bewegten sich die Steine unter ihren Füßen, und sie fühlte, wie sie versank. Sie schrie auf. Von der Decke regneten auf einmal dicke, geschmolzenem Wachs ähnliche Tropfen und klatschten ihr ins Gesicht. Sie waren nicht warm, aber irgendwie flüssig. Sie hatten die Farbe von Stein!
Von Panik ergriffen keuchte sie auf und stolperte, als ihre Füße immer tiefer in den viel zu glatten Boden einsanken. Eine Hand ergriff sie; sie schaute auf und sah, dass Egwene nach ihr gegriffen hatte. Die Gitterstäbe zerschmolzen einfach, das Eisen erschlaffte und verflüssigte sich dann.
»Hilfe!«, schrie Egwene den Gelben zu. »Verflucht! Hört auf zu starren!«
Entsetzt versuchte Leane Halt zu finden, versuchte sich an den Gitterstäben auf Egwene zuzuziehen. Sie bekam nur Wachs zu fassen. Ein Stück Gitter löste sich und wurde zwischen ihren Fingern zerdrückt, der Boden verformte sich unter ihr und saugte sie in die Tiefe.
Und dann ergriffen sie Stränge aus Luft und rissen sie frei. Der Raum schwankte, als sie nach vorn gegen Egwene geschleudert wurde und die junge Frau zurückstieß. Die beiden Gelben - die weißhaarige Musarin und die kleine Gelarna - waren auf die Füße gesprungen, und der Schein Saidars hüllte sie ein. Musarin rief nach Hilfe und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die schmelzende Zelle.
Leane kroch von Egwene fort und kam wieder auf die Füße, ihr Kleid und ihre Beine waren mit dem seltsamen Wachs überzogen, und sie stolperte von der Kerkerzelle weg. Hier im Korridor fühlte sich der Boden stabil an. Beim Licht, wie gern hätte sie die Quelle umarmt! Aber man hatte ihr zu viel Spaltwurzel verabreicht, ganz zu schweigen von der Abschirmung.
Egwene stand mit ihrer Hilfe wieder auf. Stille kehrte in den Raum ein, die Lampe flackerte. Sie alle starrten die Zelle an. Sie hatte aufgehört zu schmelzen, die Gitterstäbe waren zerbrochen, an den oberen Hälften war tropfender Stahl erstarrt, die unteren Hälften waren nach innen gebogen. Viele waren durch Leanes Flucht auf den Stein gedrückt. Der Boden in dem abgesperrten Raum hatte sich wie ein Trichter nach innen gebogen. Dort, wo Leane voller Panik darauf getreten war, wies der Stein tiefe Furchen auf.
Mit pochendem Herzen stand Leane da und begriff, dass nur Sekunden vergangen waren. Was sollte sie tun? Voller Angst weglaufen? Würde auch der Rest des Korridors schmelzen?
Egwene trat einen Schritt vor und pochte mit dem Zeh gegen einen Gitterstab. Er gab nicht nach. Leane trat ebenfalls einen Schritt vor, und ihr Kleid raschelte; Stein bröckelte wie Mörtel ab. Sie beugte sich vor und strich über ihren Rock. Es fühlte sich an, als wäre er mit Stein überzogen und nicht mit Wachs.
»Diese Vorkommnisse häufen sich«, sagte Egwene ganz ruhig und sah die beiden Gelben an. »Der Dunkle König wird stärker. Die Letzte Schlacht naht. Was unternimmt Eure Amyrlin dagegen?«
Musarin sah sie an; die hochgewachsene, alternde Aes Sedai sah sichtlich verstört aus. Leane folgte Egwenes Beispiel und zwang sich zur Ruhe, als sie mit von ihrem Kleid herabregnenden Steinbröckchen neben die Amyrlin trat.
»Ja, nun«, sagte Musarin. »Novizin, Ihr geht jetzt auf Euer Zimmer. Und Ihr ...« Sie schaute Leane an, dann die Überreste der Zelle. »Euch werden wir ... umquartieren müssen.«
»Und wohl ein neues Kleid geben«, sagte Leane und verschränkte die Arme.
Musarins Blick flackerte zu Egwene. »Geht. Das ist nicht länger Eure Sache, Kind. Wir kümmern uns um die Gefangene.«
Egwene kniff die Lippen zusammen, aber dann wandte sie sich Leane zu. »Bleibt standhaft«, sagte sie und eilte fort.
Erschöpft und verstört durch die steinverformende Blase des Bösen ging Egwene mit rauschenden Röcken auf den Flügel der Burg zu, in dem sich das Novizinnenquartier befand. Was war nötig, damit diese dummen Frauen begriffen, dass man keine Zeit mehr für irgendwelchen Zank hatte?
Es war schon spät, und in den Gängen waren nur noch wenige Frauen unterwegs, und keine davon eine Novizin. Egwene passierte mehrere Diener, die spätabendlichen Pflichten nachgingen und leise über die Bodenfliesen huschten. Diese Teile der Burg waren belebt genug, dass an den Wänden ausreichend Lampen brannten; sie verbreiteten ein diffuses orangefarbenes Licht. Hundert verschiedene, auf Hochglanz polierte Fliesen reflektierten die flackernden Flammen, die wie Augen aussahen, die Egwene beobachteten.
Es fiel schwer zu verstehen, dass sich dieser ruhige Abend in eine Falle verwandelt hatte, die um ein Haar Leane getötet hätte. Wenn man sich nicht einmal mehr auf den Boden verlassen konnte, auf was denn dann? Egwene schüttelte den Kopf. Sie war zu müde und zu wund, um in diesem Moment über Lösungen nachzudenken. Ihr wurde nicht bewusst, dass aus den grauen Bodenfliesen dunkelbraune wurden. Sie ging einfach weiter und zählte die Türen, die sie passierte. Ihre war die siebte ...
Sie erstarrte und sah zwei Braune Schwestern stirnrunzelnd an: Maenadrin - eine Saldaeanerin - und Negaine. Die beiden hatten sich flüsternd unterhalten und sahen Egwene jetzt finster an, als sie an ihnen vorbeiging. Was hatten die beiden im Novizinnenquartier zu suchen?
Aber Moment mal. Das Quartier der Novizinnen hatte keine braunen Bodenfliesen. Hier hätten unscheinbare graue Fliesen liegen müssen. Und die Türen im Korridor standen viel zu weit auseinander. Das sah überhaupt nicht nach den Novizinnenzimmern aus! War sie so müde gewesen, dass sie in die genau entgegengesetzte Richtung gegangen war?
Sie kehrte um, passierte die beiden Braunen erneut. Sie kam zu einem Fenster und schaute hinaus. Um sie herum erstreckte sich die rechteckige weiße Fläche des Turmflügels, genau wie er sollte. Sie hatte sich nicht verlaufen.
Verblüfft sah sie nach hinten. Maenadrin hatte die Arme verschränkt und betrachtete sie mit ihren dunklen Augen. Die hochgewachsene und dürre Negaine kam auf sie zu. »Was habt Ihr hier um diese Nachtzeit zu suchen, Kind?«, wollte sie wissen. »Hat Euch eine Schwester kommen lassen? Ihr solltet in Eurem Zimmer sein und schlafen.«
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