Die rundgesichtige Frau zögerte. Sie ging mit hinter dem Rücken verschränkten Händen; das dunkelgrüne Kleid fiel nur durch subtile Stickereien auf. Für eine Aes Sedai war das bestenfalls zweckmäßig zu nennen. »Wenn mein Lord Drache sagt, dass der Makel entfernt wurde«, erwiderte die Frau mit sorgfältig gewählten Worten, »dann ist es sicherlich ungehörig, ihn in Gegenwart anderer anzuzweifeln.«
Rand schnitt eine Grimasse. Eine typische Aes Sedai-Antwort. Eid oder nicht, Elza machte, was sie wollte.
»Oh, wir waren beide bei Shadar Logoth dabei«, sagte Corele und rollte mit den Augen. »Wir haben gesehen, was Ihr getan habt, Rand. Außerdem kann ich den männlichen Teil der Macht durch den lieben Damer hier spüren, wenn wir uns verbinden. Sie hat sich verändert. Der Makel ist verschwunden. Sie ist so rein wie das Sonnenlicht, auch wenn sich das Lenken der männlichen Hälfte noch immer wie ein Ringkampf mit einem Sommerwirbelwind anfühlt.«
»Ja«, sagte Elza, »das mag ja so sein, aber Lord Drache, Ihr müsst verstehen, wie schwer es anderen fallen wird, das zu glauben. Im Zeitalter des Wahnsinns hat es Jahrzehnte gedauert, bis so mancher akzeptieren konnte, dass männliche Aes Sedai zum Wahnsinn verurteilt waren. Vermutlich wird es noch viel länger dauern, bis sie ihr Misstrauen überwunden haben, jetzt, da es so tief in ihnen verwurzelt ist.«
Rand atmete tief durch. Er hatte einen kleinen Hügel beim Lager erreicht, direkt neben dem Erdwall. Er stieg weiter hinauf, und die Aes Sedai folgten ihm. Hier hatte man eine kleine hölzerne Plattform errichtet - eine Schützenstellung, um Pfeile über den Wall schießen zu können.
Er blieb auf der Hügelmitte stehen, umgeben von Töchtern. Die ihm salutierenden Soldaten nahm er kaum wahr, als er sich das saldaeanische Lager mit seinen ordentlichen Zeltreihen ansah.
War das alles, was er der Welt hinterlassen würde? Ein entfernter Makel, und trotzdem wurden Männer wegen etwas, für das sie nichts konnten, auch weiterhin getötet oder ins Exil geschickt? Die meisten Nationen hatte er an sich gebunden. Trotzdem wusste er genau, je fester man einen Ballen schnürte, umso lauter peitschten die Schnüre, wenn man sie durchschnitt. Was würde geschehen, wenn er starb? Kriege und Verwüstungen, die der Zerstörung der Welt entsprachen? Das letzte Mal hatte er nicht helfen können, denn sein Wahnsinn und die Trauer um Ilyenas Tod hatten ihn aufgefressen. Konnte er dieses Mal etwas Ähnliches verhindern? Hatte er überhaupt eine Wahl?
Er war ta'veren. Das Muster beugte und formte sich um ihn herum. Und doch hatte er als König sehr schnell eines gelernt: über je mehr Autorität man verfügte, desto weniger Kontrolle hatte man über das eigene Leben. Die Pflicht war wahrlich schwerer als ein Berg; sie erzwang seine Handlungen genauso oft, wie es die Prophezeiungen taten. Oder waren beide ein und dasselbe? Pflicht und Prophezeiung? Seine Natur als Ta'veren und sein Platz in der Geschichte? Konnte er sein Leben ändern? Konnte er nach seinem Dahinscheiden eine bessere Welt hinterlassen, statt die Nationen in sich zerrissen und blutend zurückzulassen?
Er beobachtete das Lager, wo Männer ihrer Arbeit nachgingen und Pferde mit der Nase auf dem Boden umherstrichen, auf der Suche nach Flecken mit Wintergras, das noch nicht bis zu den Wurzeln abgenagt war. Obwohl er seinem Heer befohlen hatte, mit wenig Gepäck zu reisen, gab es trotzdem einen Tross. Frauen, die Essen kochten und Wäsche wuschen, Schmiede und Hufschmiede, die sich um Ausrüstung und Pferde kümmerten, junge Burschen, die als Botenjungen umherliefen und mit Waffen trainierten. Saldaea gehörte zu den Grenzländern, und der Kampf war für seine Bewohner eine Lebensart.
»Manchmal beneide ich sie«, flüsterte er.
»Mein Lord?«, fragte Flinn und trat näher heran.
»Die Menschen im Lager. Sie tun, was man ihnen sagt, erfüllen jeden Tag ihre Befehle. Manchmal sogar strenge Befehle. Aber Befehle oder nicht, diese Menschen sind freier, als ich es bin.«
»Ihr, mein Lord?«, sagte Flinn und rieb sich das ledrige Gesicht. »Ihr seid der mächtigste Mann auf der Welt! Ihr seid ta'veren. Selbst das Muster gehorcht Eurem Willen, denke ich!«
Rand schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, Flinn. Diese Menschen dort unten, jeder von ihnen könnte einfach wegreiten. Dem entfliehen, wenn sie dazu die Lust hätten. Den Kampf anderen überlassen.«
»In meinem Leben habe ich so einige Saldaeaner kennengelernt, mein Lord«, sagte Flinn. »Verzeiht mir, aber ich bezweifle, dass auch nur einer von ihnen so handeln würde.«
»Aber sie könnten es«, erwiderte Rand. »Es ist möglich. Trotz ihrer Gesetze und Eide sind sie frei. Ich hingegen, es hat den Anschein, als könnte ich tun, was ich will, aber ich bin so eng gebunden, dass die Fesseln in mein Fleisch einschneiden. Im Angesicht des Schicksals sind meine Macht und mein Einfluss bedeutungslos. Meine Freiheit ist nur eine Illusion, Flinn. Und darum beneide ich sie. Manchmal.«
Flinn faltete die Hände auf dem Rücken, sich offensichtlich unsicher, was er darauf antworten sollte.
Wir tun alle das, was wir tun müssen, erklang Moiraines Stimme aus der Vergangenheit in Rands Erinnerung. Wie es das Muster bestimmt. Für manche gibt es weniger Freiheit als für andere. Es spielt keine Rolle, ob wir wählen oder auserwählt werden. Was geschehen muss, wird geschehen.
Sie hatte es begriffen. Ich versuche es, Moiraine, dachte er. Ich werde tun, was getan werden muss.
»Mein Lord Drache«, rief eine Stimme. Rand drehte sich um und sah einen von Basheres Spähern den Hügel herauflaufen. Die Töchter erlaubten dem jugendlichen dunkelhaarigen Mann näher zu kommen.
»Mein Lord«, sagte der Späher und salutierte. »Da sind Aiel am Rand des Lagers. Zwei von ihnen schleichen am Hang zwischen den Bäumen umher.«
Die Töchter fingen augenblicklich an, die Hände zu bewegen und in ihrer geheimen Gebärdensprache zu sprechen.
»Soldat, hat einer dieser Aiel Euch zugewinkt?«, fragte Rand trocken.
»Mein Lord?«, fragte der Mann. »Warum sollten sie das tun?«
»Es sind Aiel. Wenn ihr sie gesehen habt, dann bedeutet das, dass sie das wollten - und es bedeutet, dass sie Verbündete und keine Feinde sind. Informiert Bashere, dass wir uns bald mit Rhuarc und Bael treffen. Die Zeit ist gekommen, Arad Doman zu sichern.«
Vielleicht war es auch der Zeitpunkt, es zu zerstören. Manchmal fiel es schwer, den Unterschied festzustellen.
Merise ergriff das Wort. »Graendals Pläne - sagt mir, was Ihr von ihnen wisst.« Die hochgewachsene Aes Sedai - wie Cadsuane ein Mitglied der Grünen Ajah - behielt ihren strengen Gesichtsausdruck bei, die Arme unter den Brüsten verschränkt.
Die Frau aus Tarabon war eine gute Wahl, um das Verhör zu leiten. Oder zumindest war sie die Beste, die Cadsuane zur Verfügung stand. Merise verriet keinerlei Unbehagen darüber, so nahe neben einem der gefürchtetsten Wesen in der Schöpfung zu stehen, und sie ließ mit ihren Fragen nicht locker. Sie bemühte sich etwas zu sehr zu beweisen, wie streng sie war. So wie sie etwa das Haar so straff zurückgekämmt hatte, oder wie sie mit ihrem Asha'man-Behüter angab.
Das Zimmer befand sich auf der ersten Etage des Herrenhauses, das die Domani Rand al'Thor zur Verfügung gestellt hatten; die Außenwand bestand aus dicken runden Kieferstämmen, die Zimmerwände aus Holzplanken, die alle die gleiche dunkle Farbe aufwiesen. Man hatte fast sämtliche Möbel aus dem Raum entfernt, der zuvor als Schlafzimmer gedient hatte, es befand sich nicht einmal mehr ein Teppich auf dem Holzfußboden. Tatsächlich bestand das einzige Möbelstück aus dem stabilen Stuhl, auf dem Cadsuane saß.
Sie nippte an ihrem Tee und präsentierte sich als die personifizierte Gelassenheit. Das war wichtig, vor allem dann, wenn man innerlich alles andere als gelassen war. Im Moment hätte sie zum Beispiel nichts lieber getan, als die Teetasse mit beiden Händen zu zerbrechen und dann eine Stunde oder so auf den Scherben herumzutrampeln.
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