» Sprecht nicht so von ihm!« Überraschenderweise kamen diese Worte von der Marath’damane, die neben al’Thors Stuhl stand.
»Nynaeve …«, setzte al’Thor an.
»Verbiete mir nicht das Wort, Rand al’Thor«, sagte die Frau und verschränkte die Arme. »Er ist auch dein Freund.« Die Frau wandte den Kopf, sah Tuon wieder an und erwiderte ihren Blick. Sie erwiderte ihn! Eine Marath’damane!
Sie fuhr fort: »Matrim Cauthon ist einer der anständigsten Männer, denen Ihr je begegnen werdet, Euer Hoheit, und ich werde mir nicht anhören, wie Ihr schlecht von ihm sprecht. Was Recht ist, muss auch Recht bleiben.«
»Nynaeve hat recht«, sagte al’Thor widerstrebend. »Er ist ein guter Mann. Mat mag ja manchmal etwas ungeschliffen erscheinen, aber er ist ein so treuer Freund, wie man ihn sich nur wünschen kann. Auch wenn er darüber meckert, was ihn sein Gewissen tun lässt.«
»Er rettete mir das Leben«, sagte die Marath’damane. »Rettete mich, als niemand daran dachte, sich um mich zu kümmern, obwohl er dafür einen hohen Preis zahlen musste und ihn das in schreckliche Gefahr brachte.« Ihre Augen blitzten vor Wut. »fa, er trinkt und spielt zu viel. Aber sprecht nicht von ihm, als würdet Ihr ihn kennen, denn das tut Ihr nicht. Unter all dem hat er ein goldenes Herz. Wenn Ihr ihm etwas angetan habt…«
»Ihm etwas angetan?«, sagte Tuon. »Er hat mich entführt!«
»Dann wird er einen Grund dafür gehabt haben«, sagte Rand al’Thor.
Eine solche Loyalität! Wieder war sie gezwungen, ihre Einschätzung über Matrim Cauthon zu überdenken.
»Aber das ist irrelevant«, sagte al’Thor und stand plötzlich auf. Einer der Totenwächter zog das Schwert. Al’Thor sah den Wächter nur an, und Karede gab dem Mann ein Zeichen, der das Schwert beschämt und mit gesenktem Blick wieder in die Scheide schob.
Al’Thor legte die Hand flach auf den Tisch. Er beugte sich vor und fing Tuons Blick ein. Wer konnte sich diesen intensiven grauen Augen entziehen, die wie Stahl waren? »Nichts davon ist von Belang. Mat ist nicht von Belang. Unsere Ähnlichkeiten und unsere Unterschiede sind nicht von Belang. Allein eines zählt: was wir brauchen. Und ich brauche Euch.«
Er beugte sich weiter vor, überragte sie. Seine Gestalt veränderte sich nicht, aber plötzlich erschien er hundert Fuß groß. Er sprach mit demselben ruhigen, alles durchdringenden Tonfall, aber jetzt lag eine Drohung darin. Eine Schärfe.
»Ihr müsst mit Euren Angriffen aufhören«, sagte er beinahe flüsternd. »Ihr müsst ein Abkommen mit mir unterzeichnen. Das sind keine Bitten. Das ist mein Wille.«
Plötzlich sehnte sich Tuon danach, ihm zu gehorchen. Ihn zu erfreuen. Ein Vertrag. Ein Vertrag wäre ausgezeichnet, er würde ihr Gelegenheit geben, ihre Position in diesen Ländern hier zu festigen. Sie könnte planen, wie sie in Seanchan wieder für Ordnung sorgen wollte. Sie konnte rekrutieren und ausbilden. So viele Möglichkeiten eröffneten sich ihr, als wäre ihr Verstand plötzlich entschlossen, jeden Vorteil der Allianz zu sehen, aber keinen der Nachteile.
Sie griff nach diesen Nachteilen, stürzte sich darauf, die Probleme zu sehen, die die Verbindung mit diesem Mann bringen würden. Aber sie verflüssigten sich und entglitten ihr. Sie konnte sie nicht ergreifen und Einwände formulieren. Im Pavillon wurde es still, die Brise schlief ein.
Was geschah nur mit ihr? Ihr stockte der Atem, als würde ein Gewicht auf ihrer Brust liegen. Sie hatte das Gefühl, sich dem Willen dieses Mannes beugen zu müssen, ob sie wollte oder nicht.
Sein Ausdruck war grimmig. Trotz des nachmittäglichen Lichts lag sein Gesicht im Schatten, bedeutend ausgeprägter als bei allen anderen unter dem Zeltdach. Er hielt ihren Blick gefangen, und ihr Atem ging stoßweise. Am Rand ihres Blickfeldes glaubte sie etwas um ihn herum zu sehen. Ein dunkler Schimmer, eine schwarze Aura, die er zu verströmen schien. Sie verzerrte die Luft wie ein Hitzeschleier. Tuons Hals verkrampfte sich, Worte bildeten sich. Ja. Ich tue, worum Ihr mich bittet. Ja. Ich muss es tun. Ich muss.
»Nein«, sagte sie, und es war kaum ein Flüstern.
Seine Miene verfinsterte sich, und sie erkannte Zorn in der Weise, wie er die Hand so fest auf die Tischplatte drückte, dass die Finger zitterten. Wie er die Zähne zusammenbiss. Wie sich seine Augen weiteten. Solche Intensität.
»Ich brauche …«, setzte er an.
»Nein«, wiederholte sie mit wachsendem Selbstvertrauen. »Ihr werdet Euch vor mir verbeugen, Rand al’Thor. Es wird nicht andersherum geschehen.« Eine solche Dunkelheit! Wie konnte ein Mann sie nur in sich behalten? Er schien einen Schatten von der Größe eines Berges zu werfen.
Sie konnte sich nicht mit dieser Kreatur verbünden. Dieser siedende Hass, er versetzte sie in Angst und Schrecken, und Entsetzen war ein Gefühl, mit dem sie nicht vertraut war. Man durfte diesem Mann nicht erlauben, sich frei zu bewegen und das zu tun, was er wollte. Er musste unter Kontrolle gehalten werden.
Er sah sie noch einen Moment länger an. »Gut«, sagte er. Seine Stimme war eisig.
Er fuhr auf dem Absatz herum, entfernte sich von dem Pavillon, sah nicht zurück. Sein Gefolge schloss sich ihm an; sie alle sahen verstört aus, sogar die Marath’damane mit dem Zopf. Als wären sie sich selbst nicht sicher, was - oder wem - sie in diesem Mann folgten.
Tuon sah ihm keuchend nach. Sie konnte die anderen nicht sehen lassen, wie verstört sie war. Sie durften nicht wissen, dass sie ihn in diesem letzten Augenblick gefürchtet hatte. Sie beobachtete ihn, bis er auf seinem Pferd hinter dem Hügel verschwunden war. Und noch immer zitterten ihre Hände. Sie traute sich nicht zu sprechen.
Niemand sprach in der Zeit, die sie brauchte, um sich zu beruhigen. Vielleicht waren sie genauso erschüttert wie sie. Vielleicht spürten sie ihre Sorge. Schließlich stand Tuon auf, lange nachdem al’Thor weg war. Sie drehte sich um und sah das Blut, die Generäle, die Soldaten und die Wächter an, die sich dort versammelt hatten. »Ich bin die Kaiserin«, sagte sie leise.
Alle fielen auf die Knie, selbst das Hohe Blut.
Das war die einzig erforderliche Zeremonie. Oh, in Ebou Dar würde es noch eine formelle Krönung geben, mit Prozessionen und Paraden und Audienzen. Sie würde die persönlichen Treueide von jedem Angehörigen des Blutes entgegennehmen und der Tradition zufolge die Gelegenheit haben, jeden von ihnen ohne einen Grund mit der eigenen Hand hinrichten zu können, jene, von denen sie der Ansicht war, dass sie gegen ihren Aufstieg auf den Thron opponiert hatten.
Alles das und noch viel mehr würde es geben. Aber ihre Ankündigung war die wahre Krönung. Gesprochen von der Tochter der Neun Monde nach der Trauerzeit.
Die Festivitäten begannen in dem Augenblick, in dem sie alle bat, sich zu erheben. Man würde eine Woche lang feiern. Eine notwendige Ablenkung. Die Welt brauchte Tuon. Sie brauchte eine Kaiserin. Von diesem Augenblick an würde sich alles verändern.
Als sich die Da’covale erhoben und anfingen, ihre Krönung zu preisen und zu besingen, trat Tuon zu General Galgan. »Gebt General Yulan Bescheid«, sagte sie leise. »Sagt ihm, er soll den Angriff gegen die Marath ‘damane von Tar Valon vorbereiten. Wir müssen einen Schlag gegen den Wiedergeborenen Drachen ausführen, und zwar schnell. Man darf diesem Mann nicht erlauben, noch mehr Kräfte zu sammeln, als er ohnehin schon hat.«
Meine Reise nahm ihren Anfang in Tear«, sagte Verin und setzte sich auf Mats besten Stuhl aus dunklem Walnussholz, auf dem ein hübsches hellbraunes Kissen lag. Tomas nahm hinter ihr Aufstellung, die Hand am Schwertgriff. »Ich wollte nach Tar Valon.«
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