Sein Gefolge zog vorbei. Als sie sich abwandte, glaubte sie wie zuvor im Augenwinkel eine Dunkelheit um ihn herum zu sehen, als würden die Wolken am Himmel zu viel Schatten spenden. Sah sie ihn direkt an, verschwand sie - tatsächlich konnte sie sie nicht erkennen, wenn sie bewusst danach Ausschau hielt. Sie erschien immer nur dann, wenn sie ihn indirekt wahrnahm, und dann auch nur zufällig.
In ihren vielen fahren hatte Cadsuane noch nie zuvor so etwas gehört oder davon gelesen. Es bei dem Wiedergeborenen Drachen zu sehen machte ihr Angst. Diese Angelegenheit war größer als ihr Stolz geworden, auch viel größer als ihr Scheitern. Nein. Diese Angelegenheit war immer größer als sie selbst gewesen. Al’Thor zu führen hatte nie Ähnlichkeit damit gehabt, ein galoppierendes Pferd zu lenken, es war wie der Versuch, einen Sturm auf dem Ozean zu lenken!
Cadsuane würde es nie schaffen, seinen Kurs zu ändern. Er vertraute den Aes Sedai nicht, und das aus gutem Grund. Er schien niemandem zu vertrauen, ausgenommen vielleicht Min - aber Min hatte jedem ihrer Versuche widerstanden, sie mit einzubeziehen. Das Mädchen war beinahe genauso schlimm wie al’Thor.
Ein Besuch der Docks war sinnlos. Die Unterhaltung mit ihren Informanten war sinnlos. Wenn sie nicht bald etwas unternahm, waren sie alle zum Untergang verurteilt. Aber was? Sie lehnte sich gegen das Gebäude; über ihr flatterten dreieckige Banner und zeigten nach Norden. Zur Fäule und al’Thors Schicksal.
Da kam ihr eine Idee. Sie ergriff sie wie eine Ertrinkende in stürmischer See. Sie konnte nicht sagen, was damit alles verbunden sein mochte, aber es war ihre einzige Hoffnung.
Cadsuane fuhr auf dem Absatz herum und eilte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Den Kopf hielt sie gesenkt und wagte es kaum, an ihren Plan zu denken. Er konnte so leicht scheitern. Falls al’Thor tatsächlich so sehr von seiner Wut dominiert wurde, wie sie befürchtete, dann würde ihm auch das nicht helfen.
Aber wenn er wirklich schon so weit war, dann würde ihm gar nichts mehr helfen. Das bedeutete, dass sie nichts zu verlieren hatte. Nichts als die Welt selbst.
Sie bahnte sich einen Weg durch die Massen und lief gelegentlich über die schlammige Straße, um sie zu umgehen, und schließlich erreichte sie das Herrenhaus. Aiel hatten das Lager von Dobraines Waffenmännern übernommen. Allerdings kampierten sie überall, auf dem Gelände oder in einem Flügel des Gebäudes, andere auch in benachbarten Häusern.
Cadsuane begab sich in den Flügel, der den Aiel gehörte, und keiner hielt sie auf. Sie genoss bei den Aiel Privilegien, die keine der anderen Schwestern hatte. Sorilea und die anderen Weisen Frauen hielten gerade in einer der Bibliotheken eine Besprechung ab. Natürlich saßen sie auf dem Boden. Sorilea nickte Cadsuane bei ihrem Eintreten zu. Sie bestand nur aus ledriger Haut und Knochen, aber keiner hätte sie als hinfällig bezeichnet. Nicht mit diesen Augen, die aus einem Gesicht blickten, das zu jung für ihr Alter war, obwohl Wind und Sonne ihm ihren Tribut abgefordert hatten. Wieso nur konnten die Weisen Frauen so lange leben, ohne die Alterslosigkeit der Aes Sedai zu erringen? Noch eine Frage, auf die Cadsuane noch keine Antwort gefunden hatte.
Sie schlug die Kapuze zurück und gesellte sich auf den Boden zu den Weisen Frauen und verzichtete sogar auf ein Kissen. Sie sah Sorilea in die Augen. »Ich habe versagt«, erklärte sie.
Die Weise Frau nickte, als hätte sie das Gleiche gedacht. Cadsuane zwang sich, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen.
»Im Scheitern liegt keine Schande begründet«, sagte Bair, »wenn dieses Scheitern die Schuld von jemand anderem war.«
Amys nickte. »Der Car’a’carn ist sturer als alle anderen Männer zusammen, Cadsuane Sedai. Ihr schuldet uns kein Toh.«
»Schande oder Toh«, sagte Cadsuane, »das alles ist bald irrelevant. Aber ich habe einen Plan. Werdet ihr mir helfen?« Die Weisen Frauen tauschten einen Blick aus. »Was für einen Plan?«, fragte Sorilea. Cadsuane lächelte, dann fing sie an zu erklären.
Rand warf einen Blick über die Schulter und sah zu, wie Cadsuane davonhuschte. Vermutlich glaubte sie, er hätte sie da an der Straßenseite nicht bemerkt. Der Kapuzenumhang verbarg ihr Gesicht, aber nichts konnte diese selbstbewusste Pose verstecken, nicht einmal diese albernen Schuhe. Selbst als sie sich beeilte, erschien sie beherrscht, und andere gingen ihr automatisch aus dem Weg.
Sie kokettierte mit seinem Verbot, folgte ihm auf diese Weise durch die Stadt. Allerdings hatte sie ihm nicht ihr Gesicht gezeigt, also ließ er sie gehen. Vermutlich war es ein schlechter Zug gewesen, sie überhaupt ins Exil zu schicken, aber das ließ sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. In Zukunft würde er einfach sein Temperament zügeln müssen. Es in Eis hüllen und tief in seiner Brust vor sich hin dampfen lassen, wo es wie ein zweites Herz pulsierte.
Er wandte sich wieder den Docks zu. Eigentlich gab es für ihn keinen guten Grund, die Nahrungsmittelverteilung persönlich zu kontrollieren. Aber ihm war nicht entgangen, dass die Chancen, dass das Korn auch die erreichte, die es brauchten, sich bedeutend erhöhten, wenn alle wussten, dass sie unter Beobachtung standen. Das hier waren Menschen, die zu lange ohne König gelebt hatten; sie verdienten zu erleben, dass jemand Autorität ausübte.
Am Kai lenkte er Tai’daishar an den Docks vorbei und schlug ein gemächliches Tempo ein. Er warf dem Asha’man an seiner Seite einen Blick zu. Naeff hatte ein starkes, ebenmäßiges Gesicht und den schmalen Wuchs eines Kriegers; er war bei der Königlichen Garde von Andor gewesen, bevor er während der Herrschaft von » Lord Gaebril« angewidert den Dienst quittiert hatte. Naeff hatte seinen Weg zur Schwarzen Burg gefunden, und jetzt trug er sowohl Schwert als auch Drachen.
Irgendwann würde Rand ihn entweder zu seiner Aes Sedai zurückkehren lassen müssen - Naeff gehörte zu den Ersten, die einen Bund eingegangen waren - oder sie holen lassen. Allerdings verabscheute er den Gedanken, eine weitere Aes Sedai in der Nähe zu haben, auch wenn Nelavaire Demasiellin, eine Grüne, für eine Aes Sedai relativ angenehm war.
»Fahrt fort«, sagte er zu Naeff. Der Asha’man hatte Botschaften überbracht und sich zusammen mit Bashere mit den Seanchanern getroffen.
»Nun, mein Lord«, sagte Naeff, »das ist nur so ein Gefühl, aber ich glaube nicht, dass sie Katar als Treffpunkt akzeptieren. Sie werden immer schwierig, wenn Lord Bashere oder ich es erwähnen, behaupten, sie müssten erst weitere Instruktionen von der Tochter der Neun Monde einholen. Ihrem Tonfall ist anzumerken, dass die ›Instruktionen‹ besagen werden, dass der Ort nicht akzeptabel ist.«
»Katar ist neutraler Boden«, sagte Rand leise, »weder in Arad Doman noch tief in den von den Seanchanern gehaltenen Gebieten.«
»Ich weiß, mein Lord. Wir haben es versucht. Das haben wir wirklich, mein Ehrenwort.«
»Also gut. Wenn sie da weiter so stur sind, suche ich einen anderen Ort aus. Kehrt zu ihnen zurück und sagt ihnen, dass wir uns in Falme treffen.«
Hinter ihnen stieß Flinn einen leisen Pfiff aus.
»Mein Lord«, sagte Naeff, »das liegt weit hinter der seanchanischen Grenze.«
»Ich weiß«, erwiderte Rand und warf Flinn einen Blick zu. »Aber es hat eine gewisse … historische Signifikanz. Wir werden sicher sein; diese Seanchaner sind von ihrer Ehre gefangen. Sie werden nicht angreifen, wenn wir unter dem Banner des Waffenstillstands kommen.«
»Seid Ihr Euch da sicher?«, fragte Naeff leise. »Mir gefällt es gar nicht, wie sie mich ansehen, mein Lord. Da liegt Verachtung in ihrem Blick, bei jedem Einzelnen von ihnen. Verachtung und Mitleid, als wäre ich ein ausgesetzter Hund, der hinter der Schenke im Abfall nach Essen sucht. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, aber es macht mich krank.«
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