Das Gute an Talmanes war jedoch, dass er einfach mit stoischer Miene sein Pferd antrieb und seine Augen einen Funken Vergnügen verrieten. »Nun, das will ich sehen!«
Perrin schlug die Augen auf und entdeckte, dass er in der Luft hing.
Ein Stich des Entsetzens durchfuhr ihn, dort am Himmel zu schweben. Über ihm brodelten schwarze Wolken unheilvoll. In der Tiefe wogte auf einer Ebene braunes Gras im Wind, ohne jedes Anzeichen von Menschen. Es gab keine Zelte, keine Straßen, nicht einmal Fußabdrücke.
Perrin fiel nicht. Er hing einfach da. Reflexartig wedelte er mit den Armen, als wollte er schwimmen, geriet in Panik, als sein Verstand versuchte, der Desorientierung einen Sinn zu verleihen.
Der Wolfstraum, dachte er. Ich bin im Wolfstraum. Ich bin in der Hoffnung eingeschlafen herzufinden.
Er zwang sich dazu, ganz ruhig zu atmen und mit dem Armgefuchtel aufzuhören, auch wenn Hunderte von Fuß am Himmel hängend jede Beherrschung schwerfiel. Plötzlich schoss eine graupelzige Gestalt an ihm vorbei und sprang durch die Luft. Der Wolf glitt zu dem Feld in der Tiefe und landete mühelos.
»Springer!«
Spring runter, junger Bulle. Spring. Es ist sicher. Wie immer kam die Botschaft des Wolfes als Mischung aus Gerüchen und Bildern. Perrin wurde immer besser in der Interpretation - weiche Erde repräsentierte den Boden, rauschender Wind das Bild fürs Springen, der Geruch von Ruhe und Entspannung als Hinweis, dass es nichts zu fürchten gab.
»Aber wie?«
Früher bist du immer wie ein Welpe losgestürmt. Spring. Spring runter! Tief unten saß Springer auf den Hinterbeinen und grinste zu ihm hoch.
Perrin murmelte einen oder zwei Flüche, die auf Wölfe gemünzt waren. Es hatte den Anschein, dass die Toten besonders stur waren. Obwohl Springer nicht unrecht hatte. Er war schon zuvor an diesem Ort gesprungen, wenn auch nicht vom Himmel.
Er holte tief Luft, schloss die Augen und stellte sich vor, wie er sprang. Plötzlich raste ein Luftstrom an ihm vorbei, aber dann berührten seine Füße weichen Boden. Er öffnete die Augen. Neben ihm saß ein großer grauer Wolf, der Narben von vielen Kämpfen aufwies. Auf der großen Ebene breitete sich wild wuchernde Hirse aus, zwischen der sich Inseln aus langen dünnen Grashalmen hoch in den Himmel erstreckten. Kratzige Halme fuhren vom Wind bewegt über Perrins Arme, was juckte. Das Gras roch zu trocken, wie Heu, das den Winter über in der Scheune gelagert hatte.
Manche Dinge waren hier im Wolfstraum vergänglich; im einen Augenblick lag ein Haufen Blätter zu seinen Füßen, nur um im nächsten wieder verschwunden zu sein. Alles roch leicht abgestanden, als wäre es gar nicht richtig da.
Er schaute auf. Der Himmel war stürmisch. Normalerweise waren die Wolken an diesem Ort genau so unstet wie andere Dinge. Eben noch herrschte Bewölkung, ein Blinzeln später war der Himmel klar. Aber dieses Mal hielten sich die dunklen Sturmwolken. Sie brodelten und spannten Blitze zwischeneinander. Aber diese Blitze schlugen nie im Boden ein und machten auch keinen Lärm.
Auf der Ebene herrschte eine seltsame Stille. Die Wolken verhüllten unheilvoll den ganzen Himmel. Und sie verschwanden auch nicht.
Die Letzte Jagd kommt. Springer blickte in den Himmel. Dann laufen wir zusammen. Solange wir nicht stattdessen schlafen.
»Schlafen? Und was ist mit der Letzten Jagd?«
Sie kommt. Wenn der Schattentöter dem Sturm zum Opfer fällt, werden wir alle für alle Ewigkeit schlafen. Überlebt er, dann werden wir zusammen jagen. Du und wir.
Perrin rieb sich das Kinn und versuchte die Bilder, Gerüche, Laute und Gefühle zu verstehen. Sie ergaben nur wenig Sinn für ihn.
Aber gut, er war jetzt hier. Er hatte herkommen wollen, und er hatte sich entschieden, falls möglich ein paar Antworten von Springer zu erhalten. Es war schön, den Wolf wiederzusehen.
Laufen, schickte Springer. Das Bild war nicht alarmiert. Es war ein Angebot. Lass uns zusammen laufen.
Perrin nickte und fing an, durch das Gras zu laufen. Springer lief neben ihm und übersandte Belustigung. Auf zwei Beinen, junger Bulle? Zwei Beine sind langsam! Die übermittelte Botschaft bestand aus einem Bild von Männern, die wegen ihrer viel zu langen Beine ständig übereinander stolperten.
Perrin zögerte. »Ich muss die Kontrolle behalten, Springer«, sagte er. »Wenn ich den Wolf die Kontrolle übernehmen lasse ... nun, dann tue ich gefährliche Dinge.«
Der Wolf legte den Kopf schief und trabte weiter neben ihm durch das Gras. Die Halme raschelten, als sich die beiden einen Weg bahnten, bis sie einen kleinen Wildpfad fanden und ihm folgten.
Lauf, drängte Springer ihn, offensichtlich verwirrt von seinem Zögern.
»Ich kann nicht«, sagte Perrin und blieb stehen. Springer drehte sich um und kam mit ein paar Sätzen zurück zu ihm. Er roch verwirrt.
»Springer, wenn ich die Kontrolle verliere, dann habe ich Angst vor mir selbst«, sagte Perrin. »Das erste Mal passierte es mir, kurz nachdem ich die Wölfe kennenlernte. Du musst mir helfen, es zu verstehen.«
Springer starrte ihn bloß weiterhin an, die Zunge hing ihm ein Stück aus dem Maul, die Pfoten waren leicht auseinander gestellt.
Warum mache ich das?, dachte Perrin und schüttelte den Kopf Wölfe dachten nicht wie Menschen. Was spielte es für eine Rolle, was Springer davon hielt?
Wir jagen zusammen, übermittelte Springer.
»Und wenn ich nicht mit dir zusammen jagen will?«, sagte Perrin. Allein schon die Worte ließen sein Herz verkrampfen. Ihm gefiel dieser Ort, der Wolfstraum, so gefährlich er auch sein mochte. Seit seinem Aufbruch aus den Zwei Flüssen hatte er viel erlebt, und manches war auch wunderbar gewesen.
Aber er durfte nicht mehr die Kontrolle verlieren. Er musste ein Gleichgewicht finden. Die Axt wegzuwerfen hatte einen Unterschied gemacht. Axt und Hammer waren sehr unterschiedliche Waffen - die eine konnte man nur fürs Töten benutzen, während ihm die andere eine Wahl ließ.
Lauf mit mir, Junger Bulle. Vergiss diese Gedanken. Lauf wie ein Wolf.
»Das kann ich nicht«, erwiderte Perrin. Er drehte sich um, ließ die Blicke über die Ebene schweifen. »Aber ich muss über diesen Ort Bescheid wissen, Springer. Ich muss lernen, wie man ihn benutzt, wie man ihn kontrolliert.«
Menschen, dachte Springer, übersandte Gerüche von Geringschätzung und Wut. Kontrolle. Immer nur Kontrolle.
»Ich will, dass du es mir beibringst«, sagte Perrin zu dem Wolf. »Ich will diesen Ort meistern. Zeigst du mir, wie das geht?«
Springer setzte sich auf die Hinterbeine.
»Schön. Dann suche ich mir andere Wölfe, die das tun werden.«
Er drehte sich um und setzte sich in Bewegung. Er erkannte diesen Ort nicht, aber er hatte gelernt, dass der Wolfstraum unberechenbar war. Dieses Feld mit seinem hüfthohen Gras und der Hirse konnte überall sein. Wo würde er Wölfe finden? Er hielt mit seinem Verstand Ausschau und entdeckte, dass das hier viel schwieriger war.
Du willst nicht laufen. Aber du suchst nach Wölfen. Warum bist du so schwierig, Welpe? Springer setzte sich vor ihm ins Gras.
Perrin knurrte, dann tat er einen Sprung, der ihn hundert Fuß in die Höhe beförderte. Er kam wieder auf, als wäre es ein ganz normaler Schritt gewesen.
Und Springer saß vor ihm. Er hatte den Wolf nicht springen gesehen. Eben war er noch an dem einen Ort gewesen, jetzt war er an einem anderen. Perrin suchte wieder mit seinen Gedanken. Nach anderen Wölfen. Da war etwas, in der Ferne. Er musste sich mehr anstrengen. Er konzentrierte sich, zog irgendwie mehr Stärke in sich und schaffte es, mit seinem Verstand weiter hinauszugreifen.
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