Faile lächelte und nickte; Aiel-Humor ging über ihren Horizont. »Vielen Dank, dass ihr das hier besorgt habt«, sagte sie und hielt das kleine Tuchbündel hoch.
»Nicht der Rede wert«, sagte Chiad. »An diesem Tag arbeiteten zu viele Hände, also war es leicht. Alliandre Maritha Kigarin wartet bereits bei den Bäumen auf Euch. Wir sollten ins Lager zurückkehren.«
»Ja«, fügte Bain hinzu. »Vielleicht will Gaul ja wieder den Rücken massiert haben oder Wasser gebracht bekommen. Er wird so wütend, wenn wir fragen, aber Gai'schain erringen Ehre nur durch den Dienst. Was sollen wir sonst tun?«
Die Frauen lachten wieder, und beide schüttelten den Kopf, als sie mit raschelnden Gewändern zurück in Richtung Lager liefen. Der Gedanke, so eine Tracht noch einmal tragen zu müssen, ließ Faile zusammenzucken, auch wenn es sie nur an die Tage erinnerte, die sie Sevanna hatte bedienen müssen.
Die hochgewachsene Arrela und die anmutige Lacile gesellten sich bei den Weiden wieder zu ihr. Die Töchter, die als ihre Leibwache fungierten, blieben zurück und passten aus der Ferne auf. Eine dritte Tochter trat aus den Schatten und gesellte sich zu ihnen, vermutlich von Bain und Chiad geschickt, um Alliandre zu beschützen. Die dunkelhaarige Königin stand vor den Bäumen und sah in ihrem kostbaren roten Gewand und den Goldkettchen im Haar wieder wie eine richtige Lady aus. Es war eine auffällige Aufmachung, als wäre sie entschlossen, die Tage als unfreiwillige Dienerin ungeschehen zu machen. Alliandres Gewand machte Faile unwillkürlich ihren Morgenrock bewusst. Aber sie hätte sich nichts anderes anziehen können, ohne Perrin zu wecken. Arrela und Lacile trugen nur die bestickten Hosen und Hemden, die bei den Cha Faile üblich waren.
Alliandre hielt eine kleine Laterne mit vorgeschobener Blende, die nur wenig Licht spendete; es beleuchtete ihr jugendliches Gesicht und das dunkle Haar. »Haben sie etwas gefunden?«, fragte sie sofort. »Bitte, sagt mir, dass sie Erfolg hatten.« Für eine Königin war sie immer erstaunlich bodenständig gewesen, wenn auch etwas herrisch. Ihre Zeit in Malden schien Letzteres etwas gedämpft zu haben.
»Ja.« Faile hob das Bündel. Die Frauen drängten sich um sie, als sie niederkniete. Das kurze Gras wurde von der Laterne angestrahlt und funkelte wie Flammenzungen. Faile öffnete das Bündel. Es enthielt nichts Außergewöhnliches. Ein kleines Taschentuch aus gelber Seide. Ein Ledergürtel mit einem eingestanzten Muster aus Vogelfedern. Ein schwarzer Schleier. Und ein schmaler Lederriemen, in dessen Mitte ein Stein eingeschnürt war.
»Dieser Gürtel gehörte Kinhuin«, sagte Alliandre und zeigte darauf. »Ich habe gesehen, wie er ihn trug, bevor ...« Sie verstummte, kniete nieder und nahm ihn.
»Der Schleier gehört einer Tochter«, sagte Arrela.
»Unterscheiden sie sich?«, fragte Alliandre überrascht.
»Natürlich tun sie das«, sagte Arrela und hob den Schleier hoch. Faile hatte die Tochter, die Arrelas Beschützerin geworden war, nie kennengelernt, aber die Frau war in der Schlacht gestorben, wenn auch nicht auf so dramatische Weise wie Rolan und die anderen.
Das Seidentuch gehörte Jhoradin; Lacile zögerte, dann nahm sie es in die Hand, drehte es um und enthüllte einen Blutfleck auf der anderen Seite. Damit war nur noch der Lederriemen übrig. Rolan hatte ihn gelegentlich unter seinem Cadin'sor um den Hals getragen. Faile hätte gern gewusst, was er ihm bedeutet hatte, und ob der Stein, ein grob bearbeiteter Türkis, eine besondere Bedeutung für ihn gehabt hatte. Sie nahm ihn, dabei fiel ihr Blick auf Lacile. Überraschenderweise schien die schlanke Frau zu weinen. Weil Lacile so schnell in das Bett des stämmigen Bruderlosen gestiegen war, war Faile immer davon ausgegangen, dass ihre Beziehung zu ihm aus der Notwendigkeit heraus entstanden war und nicht aus Zuneigung.
»Vier Menschen sind tot«, sagte Faile. Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Sie bemühte sich um einen förmlichen Tonfall, denn das war die beste Weise, Gefühle aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Sie haben uns beschützt, hatten sogar etwas für uns übrig. Obwohl sie der Feind waren, betrauern wir sie. Aber vergesst nie, dass sie Aiel waren. Für einen Aiel gibt es viel schlimmere Schicksale als der Tod im Kampf.«
Die anderen beiden nickten, aber Lacile erwiderte ihren Blick. Für sie beide war es anders. Als Perrin aus dieser Gasse gestürmt gekommen war - vor Wut brüllend, weil Faile und Lacile allem Anschein nach von einem Shaido misshandelt wurden -, waren viele Dinge sehr schnell geschehen. In dem folgenden Kampf hatte sie Rolan in genau dem richtigen Augenblick abgelenkt und ihn zögern lassen. Er hatte das aus Sorge um sie getan, aber dieses Zögern hatte Perrin erlaubt, ihn zu töten.
Hatte sie es absichtlich getan? Sie vermochte es noch immer nicht zu sagen. Ihr war so viel durch den Kopf geschossen, der Anblick Perrins hatte so viele Gefühle ausgelöst. Sie hatte aufgeschrien und ... sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie versucht hatte, Rolan abzulenken, damit er durch Perrins Hand sterben konnte.
Für Lacile hatte es kein derartiges Zögern gegeben. Jhoradin war vor sie gesprungen, hatte sie hinter sich geschoben und die Waffe gegen den Eindringling erhoben. Sie hatte ihm ein Messer in den Rücken gestoßen und zum ersten Mal in ihrem Leben einen Menschen getötet. Und das war ein Mann gewesen, dessen Bett sie geteilt hatte.
Faile hatte Kinhuin getötet, den anderen Bruderlosen, der sie alle beschützt hatte. Er war nicht der erste Mann, dem sie das Leben genommen hatte - auch nicht der erste, den sie hinterrücks getötet hatte. Aber er war der erste Mann, den sie getötet hatte, obwohl er sie als Freundin betrachtet hatte.
Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben. Perrin hatte nur Shaido gesehen, und die Bruderlosen nur den angreifenden Feind. Dieser Konflikt hätte nicht beendet werden können, ohne dass entweder Perrin oder die Bruderlosen tot am Boden lagen. Kein noch so lautes Brüllen hätte auch nur einen der Männer aufgehalten.
Aber das machte es nur noch tragischer. Faile kämpfte dagegen an, dass sich ihre Augen genau wie Laciles mit Tränen füllten. Sie hatte Rolan nicht geliebt, und sie war froh, dass Perrin derjenige gewesen war, der den Kampf überlebt hatte. Aber Rolan war ein ehrenhafter Mann gewesen, und irgendwie fühlte sie sich ... beschmutzt, dass sein Tod ihr Verschulden war.
Das hätte nicht so kommen müssen. Aber das war es nun einmal. Ihr Vater hatte oft von solchen Situation gesprochen, wenn man Leute töten musste, die man eigentlich mochte, nur weil man ihnen auf der falschen Seite des Schlachtfelds begegnete. Sie hatte ihn da nie verstanden. Müsste sie das noch einmal tun, würde sie wieder genauso handeln. Sie würde Perrin keinem Risiko aussetzen. Rolan hatte sterben müssen.
Aber die Welt erschien ihr als ein traurigerer Ort, weil es nötig gewesen war.
Lacile wandte sich ab und schniefte leise. Faile nahm ein kleines Fläschchen Öl aus dem Bündel. Sie zog den Stein aus dem Lederriemen, dann legte sie den Riemen in die Mitte des Tuches. Sie goss Öl darüber, entzündete einen Zunderstab an der Laterne und setzte den Riemen in Brand.
Sie sah zu, wie er mit winzigen blauen und grünen, an der Oberseite orange gekrönten Flammen verbrannte. Der Geruch von brennendem Leder hatte eine schreckliche Ähnlichkeit mit dem von brennendem menschlichen Fleisch. Die Nacht war windstill, und so konnten die Flammen ungehindert tanzen.
Alliandre tränkte den Gürtel und legte ihn in das kleine Feuer. Arrela tat das Gleiche mit dem Schleier. Schließlich fügte Lacile das Taschentuch hinzu. Sie weinte noch immer.
Das war alles, was sie tun konnten. Im Chaos des Aufbruchs aus Malden war es unmöglich gewesen, sich um die Leichen zu kümmern. Chiad hatte gesagt, es würde niemanden entehren, sie zurückzulassen, aber Faile hatte etwas tun müssen. Eine kleine Zeremonie, um Rolan und die anderen zu ehren.
Читать дальше