Es war das ferne Geräusch, das Rikka gehört, aber nicht zu deuten gewusst hatte.
Nicci, den Blick starr auf das Treppenhaus gerichtet, aus dem die Fledermäuse hervorgekommen waren, hatte das Gefühl, in einem erwartungsvollen Moment der Stille gefangen zu sein. Sie wartete darauf, endlich wieder aufatmen zu können, wartete auf etwas Unvorstellbares. Mit einem Gefühl aufkommender Panik erkannte sie, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte.
Und dann kam ein dunkler Schatten wie ein übler Wind die Stufen herabgefegt und schien doch gleichzeitig bewegungslos in der Luft zu stehen. Es war, als bestünde er aus wirbelnden schwarzen Formen und zerfließenden dunklen Schatten, die einen tiefschwarzen Strudel aus Düsterkeit erzeugten. Seine schwindelerregende Form, die sich ineinander verflechtenden Ströme aus Dunkelheit - alles vermittelte den Eindruck von nicht vorhandener Bewegung. Ein Augenzwinkern später war er verschwunden.
Mit Nachdruck unternahm Nicci einen neuerlichen Versuch, sich von der Stelle zu bewegen, doch es war, als wäre sie in warmes Wachs gegossen. Sie konnte behutsam Luft holen und sich vorwärtsbewegen, wenn auch nur unvorstellbar langsam. Jeder Zoll erforderte eine immense Kraftanstrengung und schien eine Ewigkeit zu dauern. Die Welt war unglaublich zähflüssig geworden, während gleichzeitig alles allmählich zum Erliegen kam.
Dann zeigte sich die Gestalt erneut, diesmal im Durchgang unmittelbar hinter den anderen im Gang am Fuß der Treppe, wo sie über dem steinernen Boden in der Luft zu schweben schien. Sie sah aus wie eine unter Wasser dahintreibende Frau in einem fließenden schwarzen Kleid. Trotz ihres wachsenden Entsetzens fand Nicci den exotischen Anblick seltsam faszinierend. Die anderen, die der Eindringling längst passiert hatte, waren beim Emporsteigen der Treppe mitten im Schritt so regungslos erstarrt, als wären sie gemalt.
Das drahtige Haar der Frau umspülte träge ihr blutleeres Gesicht. Der lose Stoff ihres schwarzen Kleides wirbelte herum wie in einem Wasserstrudel. Die Frau inmitten dieser wirbelnden Bewegung schien beinahe regungslos.
Der Anblick ähnelte nichts so sehr wie einer in trübem Wasser treibenden Frau.
Dann war die Gestalt ein weiteres Mal verschwunden. Nein, nicht im Wasser, erkannte Nicci.
In der Sliph.
Genau so hatte sie sich auch gefühlt. Es war dasselbe seltsame, jenseitig schwebende Gefühl des Dahintreibens, unfassbar langsam und doch irrwitzig schnell.
Plötzlich erschien die Gestalt erneut, näher diesmal. Nicci versuchte zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie versuchte, ihre Arme zu heben, um ein Netz zu wirken, trieb aber zu langsam. Ihr war, als würde das bloße Heben eines Arms den ganzen Tag in Anspruch nehmen.
Glitzernde Lichtpartikel glommen auf und blinkten zwischen Nicci und den anderen in der Luft - vom Zauberer gewirkte Magie. Sie verfehlte den Eindringling um ein gutes Stück. Auch wenn die kurze Energieentladung wirkungslos verpuffte, so war Nicci doch überrascht, dass Zedd sie überhaupt hatte auslösen können. Sie hatte ungefähr dasselbe versucht, ergebnislos.
Dunkle Stofffetzen trieben mit fließenden, flatternden Bewegungen durch den Gang. Sich windende Formen und Schatten krümmten sich in kaum merklicher Bewegung. Die Gestalt ging nicht, lief nicht, sie glitt dahin und schien nahezu regungslos inmitten des wehenden Stoffes ihres Kleides zu schweben.
Dann war sie ein weiteres Mal verschwunden.
Nur um einen Lidschlag später wieder aufzutauchen, sehr viel näher jetzt. Die gespenstische Haut spannte straff über einem Gesicht, das aussah, als hätte das Sonnenlicht es nie berührt. Knäuel schwerelosen schwarzen Haars stiegen mit Fetzen des schwarzen Kleides empor. Es war der verstörendste Anblick, den Nicci je gesehen hatte. Ihr war, als würde sie ertrinken. Das Gefühl, nicht schnell genug atmen zu können, ließ Panik in ihr aufsteigen. Doch ihre brennenden Lungen konnten nicht schneller arbeiten als ihr übriger Körper.
Als Nicci genauer hinsah, war die Frau verschwunden. Sie gewahrte, dass auch ihre Augen zu langsam arbeiteten. Der Gang war wieder leer. Offenbar vermochte die Einstellung ihrer Augen der Bewegung nicht zu folgen.
Vielleicht, überlegte Nicci, hatte sie ja eine Art Halluzination, ausgelöst von den von ihr gewirkten Bannen oder der Macht der Ordnung, die sie angezapft hatte. Sie überlegte, ob es sich um eine Nachwirkung der Banne handeln konnte. Vielleicht hatte die Macht der Ordnung höchstselbst sie heimgesucht, um sie zu holen, weil sie mit diesen verbotenen Kräften herumexperimentiert hatte.
Das musste es sein - irgendeine Verbindung mit den gefährlichen Dingen, die sie heraufbeschworen hatte.
Wiederum erschien die Frau, schien völlig unvermittelt aus dem dunklen Abgrund nach oben zu treiben.
Diesmal konnte sie die strengen, harten Züge ihres Gesichts erkennen. Verblichene blaue Augen hefteten sich auf Nicci, als wäre sie das Einzige auf der Welt. Der bohrende Blick erfüllte sie bis auf den Grund ihrer Seele mit eiskalter Angst. Die Augen der Frau waren so blass, dass sie blicklos wirkten, doch Nicci wusste, dass die Frau sehr wohl sehen konnte, nicht nur in diesem Licht, sondern auch in der dunkelsten Höhle oder unter einem Felsen, wo kein Tageslicht sie je erreichte.
Das Lächeln der Frau war das boshafteste, das Nicci je gesehen hatte, das Lächeln einer Person, der Angst vollkommen fremd war, und die es genoss, sie auszulösen, einer Frau, die wusste, dass sie alles in der Gewalt hatte. Es war ein Lächeln, das ihr ein langsames Frösteln durch den Körper kriechen ließ.
Und dann war sie abermals verschwunden.
In der Ferne flammte erneut Zedds Magie auf, nur um unmittelbar darauf wieder zu erlöschen.
Nicci versuchte sich von der Stelle zu rühren, doch die Welt war zu zähflüssig, wie bisweilen in ihren schauderhaften Träumen, in denen alle Anstrengungen, sich zu bewegen, erfolglos blieben. In diesen Träumen versuchte sie vor Jagang wegzulaufen, doch stets war er unmittelbar hinter ihr, die Hand bereits nach ihr ausgestreckt. Wenn er sich dann auf sie stürzte, glich er dem Tod höchstselbst, der nichts als die unvorstellbarsten Grausamkeiten im Sinn hatte. Obwohl sie stets weglaufen wollte, ließen sich ihre Beine einfach nicht schnell genug bewegen.
Es waren Träume, die sie in einen Zustand panischen Zitterns versetzten, und in denen der Tod so wirklich war, dass sie die Todesangst bereits schmecken konnte.
Aber dies war kein Traum.
Japsend versuchte Nicci Luft zu holen, um Zedd etwas zuzurufen, doch beides war jenseits ihrer Fähigkeiten. Sie versuchte ihr Han herbeizurufen, ihre Gabe, vermochte aber keine Verbindung zu ihr herzustellen. Es war, als wäre ihre Gabe unfassbar schnell, sie selbst dagegen unglaublich langsam. Beides war miteinander unvereinbar. Plötzlich war die Frau, mit ihrer Haut von der blassen Farbe frisch Verstorbener, Haar und Kleid schwarz wie die Unterwelt, unmittelbar neben ihr.
Schwebend löste sich ihr Arm und langte unter dem wirbelnden Kleiderstoff hervor. Das ausgedörrte, fest über ihren Knöcheln spannende Fleisch betonte das darunterliegende Knochengerüst noch. Mit ihren knochendürren Fingern strich sie über die Unterseite von Niccis Kinn, eine Berührung voller Hochmut, eine arrogante Geste des Triumphs.
Dann lachte sie ein hohles, gurgelndes Unterwasserlachen, das schmerzhaft durch die steinernen Flure der Burg der Zauberer hallte. Nicci war jenseits allen Zweifels klar, was diese Frau wollte, weshalb sie gekommen war. Verzweifelt mühte sie sich, ihre Kraft zu entfesseln, die Frau zu packen, nach ihr zu schlagen, sie irgendwie aufzuhalten, doch sie war wie gelähmt. Ihre Kraft schien so unendlich fern, dass es eine Ewigkeit dauern würde, bis zu ihr durchzudringen.
Kaum hatten die Finger Niccis Kinn gestreift, da war die Frau auch schon wieder verschwunden und sanft in schwarze Tiefen zurückgesunken. Das nächste Mal zeigte sie sich an der messingbeschlagenen Tür des Zimmers, in dem sich das Kästchen befand. Sanft umspült von ihrem Kleid, trieb sie hindurch, ohne dass ihre Füße den Boden berührten. Und entschwand erneut aus Niccis Blick.
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