»Aber dazu wird es nicht kommen.«
Nach Jahren vergeblicher Suche traf Emily auf MacQuieth, einen jener Männer, die ihr Liebster damals genannt hatte. Es war Zufall, dass er ihr in einer riesig großen Stadt über den Weg lief, und weil er ein allseits hoch gerühmter Krieger war, sie dagegen aber eine völlig Unbekannte, musste sie all ihren Mut aufbringen, um ihn auf den Jungen hin anzusprechen. MacQuieth reagierte anfangs ziemlich barsch, doch als er das flehentliche Hoffen in ihren Augen sah, wurde er freundlicher.
»Tut mir Leid«, sagte er, und es dauerte ihn, wie gespannt das Mädchen seine Worte aufnahm. »Aber ich kenne niemanden, der auf deine Beschreibung passt oder den genannten Namen trägt.« Und der ansonsten so unerschütterliche Krieger war sichtlich betroffen, als er sie mit hängenden Schultern davonziehen und in der Anonymität der Menge verschwinden sah. MacQuieth war zwar kein Hellseher, ahnte aber dennoch, dass er einer Menschenseele nachblickte, die, von allem Lebensmut verlassen, in der Masse ihresgleichen ein schrecklich tristes Dasein fristete und nur noch die Tage bis zu ihrem Tode zählte.
Gwydion wartete so geduldig, wie er nur konnte, auf die Antwort der Seherin, konnte aber seine Sorge und Verzweiflung nicht verhehlen. Dass die Seherin seine Großmutter war, tröstete ihn nur wenig. Anwyn musterte sein Gesicht, und ihre blauen Augen, die in ihrer Farbe noch intensiver waren als die von Gwydion, verrieten schiere Neugier. Es drängte sie zu erfahren, was den Enkel so nachhaltig aus der Gemütsruhe gebracht hatte, die doch ein angeborenes Charaktermerkmal der ganzen Familie war. Ihre seherischen Fähigkeiten beschränkten sich zwar fast ausschließlich auf Vergangenes, doch reichte ihr Gespür für die Zukunft aus, um zu wissen, dass Gwydion, wie es sich als Spross dieser Familie gehörte, eines Tages ein mächtiger Mann sein würde, ja, dass er noch mehr Potential besaß als alle anderen Familienmitglieder und darum die Dynastie wieder an die Spitze des Landes zurückführen konnte. Umso wichtiger erschien es ihr, ihn unter Kontrolle zu halten.
Meine Seelengefährtin, hatte er mit brüchiger Stimme beteuert. Dessen bin ich mir sicher, Großmutter .
Bitte . Die Tränen in seinen Augen stammten ganz offenbar aus einer tief in seinem Innern aufgebrochenen Quelle; das Augenklar war anscheinend längst verbraucht gewesen, als er sich dazu durchgerungen hatte, sie um Aufklärung zu bitten. Für Anwyn stand fest, dass er davon Gebrauch gemacht hatte, obwohl nunmehr keinerlei Rückstände davon zu entdecken waren.
Fragte sich nur, wer ihm dazu verholfen hatte. Die Formel für dieses Elixier lag irgendwo auf dem Meeresgrund, war sie doch vor tausend Jahren mit Serendair untergegangen. Obwohl die Großmutter zumindest eine Teilantwort auf seine Frage wusste, blieb ihrem seherischen Blick das meiste von dem, was Gwydion geschildert hatte, verschlossen – so zum Beispiel das Brennen in den Augen und vor allem die Zeitreise. Anwyn schüttelte diesen verstörenden Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf den Enkel, der zitternd und zagend vor ihr saß.
Er hatte viel riskiert, um sie zu sehen, und dem schneidenden Sturm getrotzt, der um die Felsmauern ihrer höhlenartigen Festung hoch oben zwischen den entlegensten Zacken der düsteren Nordberge fegte. Von der Kletterei über eiskaltes Gestein waren seine Hände ganz aufgeschürft, und es klebte immer noch Blut daran. Sie zu sprechen bedeutete ihm offenbar sehr viel, und obwohl er schrecklich niedergeschlagen war, freute sie sich über seinen Besuch, hatte sie in letzter Zeit doch sehr wenig Gesellschaft gehabt.
Sie dachte über seine Frage nach, und ein entrückter Ausdruck trat in ihr Gesicht, als ihr bewusst wurde, welche Folgen ihre Antwort nach sich ziehen würde. Den Jungen einzuweihen verlangte jetzt viel Taktgefühl und Rücksichtnahme. Sie nahm ihn bei den Händen und wickelte ein weiches Tuch um die geschundenen Finger. Ihr Lächeln wirkte traurig, als sie zu sprechen anfing.
»Sie ist nicht angekommen. Es tut mir Leid, mein Junge. Sie ist weder hier noch in Manosse an Land gegangen. Wenn sie als Lirin unseren Kontinent betreten hätte, würde das von den hiesigen Sternen bezeugt werden, was aber nicht der Fall ist. Woanders kann sie auch nicht gelandet sein, denn sie gehörte nicht zu denjenigen, die mit den Schiffen ablegten, ehe die Insel unterging.«
»Bist du sicher? Das kann einfach nicht sein. Bitte, Großmutter, sieh noch einmal genauer hin. Ist es nicht vielmehr doch so, dass sie zu denen zählte, die mit der Zweiten Flotte vom Kurs abgewichen sind?«
Anwyn unterdrückte ein Schmunzeln und kehrte an ihren Altar zurück, auf dem das trübe Sehglas lag. Es war das Zweitälteste Artefakt im ganzen Land und eben jenes Instrument, mit dem ihr Vater das Land entdeckt hatte, in dem sie nun zu Hause waren. Sie nahm es zur Hand und spürte seine Kraft, die sich als Wärme bemerkbar machte. Dann trat sie vor das große Fenster, das dem tausend Meilen entfernten Meer zugewandt war, und setzte das Glas an die Augen. Es dauerte lange, ehe sie das Sehglas wieder senkte und sich dem Enkel zuwandte, der vor Ungeduld nicht ein noch aus wusste.
»Mein Junge, ich muss dich enttäuschen. Unter denen, die auf den Schiffen hatten fliehen können, bevor die Insel unterging, war keine, die deiner Beschreibung entspricht. Sie hat es nicht geschafft. Sie ist nicht angekommen.«
Anwyn musste mit ansehen, wie der Junge nach dieser Antwort vor Kummer zu Boden ging und hemmungslos zu schluchzen anfing. Sie wandte sich dem Altar zu und legte leise lächelnd das Glas zurück.
»So, wie wär’s jetzt mit einem Happen zu Mittag?«
1146, Drittes Zeitalter
Er bewegte sich wie der Schatten einer Vorüberziehenden Wolke, unbemerkt und unerkannt; sogar der Wind blies über ihn hinweg, als gäbe es ihn nicht. Er stieg die Anhöhe hinauf und schaute über die Felder. Vom Wind abgesehen, war da nichts, was die Ruhe gestört hätte.
Als es dunkel wurde, stand der Bruder vom Boden auf. Er drehte sich um, warf einen Blick über die Schulter und nickte. Dann spähte er wieder in die Ferne.
Kurz darauf gesellte sich ein kolossaler Schatten zu ihm oben auf der Hügelkuppe. Im Dämmerlicht der untergehenden Sonne sah der Riese wegen seiner Waffen, die über die Schultern ragten, wie ein monströser Krebs mit gepanzerten Scheren aus. Der Sergeant folgte dem Blick des Bruders und fragte:
»Wie viel Zeit ham wir noch?«
Die Gestalt in Schwarz ließ mit einer Antwort auf sich warten; sie hatte den Kopf geneigt, als lauschte sie einem in einiger Entfernung geführten Gespräch. »Wir haben gut eine Viertelstunde Vorsprung. Darüber mache ich mir die geringsten Sorgen.«
»Verstehe.« Der schwer bewaffnete Riese seufzte. »Wir schaffen’s nich, stimmt’s?«
Der Bruder ließ den Horizont nicht aus den Augen. »Wahrscheinlich nicht.« Nach einer Weile wandte er sich dem sieben Fuß langen Gefährten zu. »Du hättest noch eine Chance. Aber nur dann, wenn du dich jetzt gleich aus dem Staub machst.«
»Kommt gar nich in Frage«, entgegnete der Riese mit breitem Grinsen. »Ich werd doch jetzt nicht mehr kehrtmachen. Und außerdem würden sie mich über kurz oder lang sowieso einholen. Ich würd lieber hier bei dir bleiben, wenn’s recht ist.«
Der Bruder nickte und richtete den Blick wieder auf den Horizont. »Na schön. Sehen wir zu, dass uns die Jäger nicht erwischen.« Mit einer schwungvollen Schulterbewegung ließ er die Armbrust, die er auf dem Rücken trug, nach vorn pendeln, nahm sie zur Hand und setzte sich hügelabwärts in Bewegung.
»Zu Befehl«, sagte der Riese zu dem Wind, dem Einzigen, der mit ihm auf der Kuppe zurückgeblieben war.
Der Einbruch der Dunkelheit kam auf weniger leisen Sohlen als der Bruder, dessen Schritte nicht einmal von den kleinen Tieren des Feldes wahrgenommen wurden. Und zu sehen war er ebenso wenig. Mit seinen schwarzen Waffen und dem schwarzen Umhang ging er restlos in der Dunkelheit auf. Er gab kein Geräusch von sich, hinterließ keine Spuren. Nur wer außergewöhnlich scharfe Augen hatte, vermochte ihn im Dunkeln auszumachen. Und das wäre für den Betreffenden wahrlich kein Vorteil gewesen, denn er hätte gewiss zumindest einen Herzschlag lang gezögert und dem Bruder damit ausreichend Zeit gelassen, den Zeugen auf immer zum Verstummen zu bringen.
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