Also gab sie sich den Träumen hin – den schrecklichen Anblicken brennender Schiffe in einem Hafen, der in Flammen stand; den Bildern von entsetzten Einwohnern, die vor Soldaten davonliefen, welche vom Pferd aus mit Schwertern angriffen; den großen geflügelten Umrissen, die durch den Nachthimmel schossen und feurigen Tod auf die Riedgrasdächer der Häuser unter ihnen regnen ließen.
Doch hauptsächlich träumte sie von Ashe.
Die meisten dieser Träume waren erschreckend, es sei denn, sie setzte ihre Fähigkeiten als Sängerin ein und griff durch die Wellen der Zeit mit der Musik nach ihm, die sie studiert hatte. Nacht für Nacht sah sie ihn in ihrem Schlaf, frierend und wandernd, manchmal in den Wellen des Meeres treibend, verloren ohne die Familie, die so wichtig für ihn war und die der Drache in ihm als sein Eigentum ansah. Selbst Hunderte von Meilen entfernt spürte sie die Entwicklung im Geist ihres Gemahls, als der Drache in seiner Seele an die Oberfläche stieg, während der gebrochene Mensch in die Schatten zurückwich.
Jede Nacht weinte sie, lag oft lange in erschöpfter Betäubung wach, bis schließlich der Morgen kam und es Zeit wurde, wieder zu ihrer Arbeit am Lichtfänger zurückzukehren.
In einer besonders grausamen Nacht träumte sie von ihrem alten Zuhause in Myrfeld in den Weiten Marschen, wo sie und der Junge, den sie Sam genannt hatte, sich unter dem Sternenhimmel, unter einem Weidenbaum und an einem Wiesenbach ineinander verliebt hatten. Die Weide, der Bach und der Baum waren in ihrem Traum noch da, doch im serenischen Krieg zu schwarzer Asche verbrannt. Die Knochen derer, die sie liebte, lagen verstreut auf dem Feld umher, und zu ihren Füßen sah sie ein winziges Skelett, dessen Schädel mit den Überresten flachsfarbener Locken geschmückt war.
Rhapsody weinte so sehr, als wollte sie sich von allen Tränen leeren.
Und dann, als sich ihr Hirn mit Anblicken des Grauens und der Verwüstung vollsog, spürte sie eine leise musikalische Schwingung um sich herum, die ihre Ohren mit sanften Tönen erfüllte und ihre Träume in die dunkelsten Ecken ihres Kopfes zurückscheuchte. Es war, als hätte sich in ihrer Seele ein Fenster geöffnet, welches den Sonnenschein hereinließ. Sie erkannte die Schwingung.
Sie ging von den beiden Drachen aus, die sie in ihrem Leben geliebt hatte – von ihrem Gemahl und von Elynsynos.
Obwohl sie sehr erschöpft war, bemühte sich Rhapsody aufzuwachen. Es kann nicht Ashe sein, dachte sie benommen und kämpfte gegen die dunklen Spinnweben des Schlafes an. Ich weiß, dass er nicht hier ist, aber ich spüre das Lied, mit dem er immer wieder meine Träume verscheucht und mich in traumlosen, erholsamen Schlaf zurückversetzt hat. Es muss Elynsynos sein; sie ist hier irgendwo, und sie lebt.
Sie kämpfte gegen die Schwere ihrer Lider an, versuchte die Schwingung zu finden, öffnete die Augen und sah sich nach der Drachin um, die ihre Albträume fortgejagt hatte.
Auf der Bettdecke neben ihr bemerkte sie zwei winzige, blinzelnde blaue Augen, deren senkrechte Pupillen sich in der Dunkelheit ausdehnten und sie eingehend ansahen. Porzellanhände und -füße fuhren durch die Luft, und ein leises Gurren drang aus einem Kopf, der von flachsblondem Haar bekrönt wurde.
Ihr Kind.
Rhapsodys Hände wanderten sofort zu ihrem Bauch, der sich unter ihren Handflächen wieder flach anfühlte. Tränen liefen ihr die Wangen herunter, als sie sanft die Hände ausstreckte und die weiche Haut von Meridions Wange streichelte. Sie schob die Hände vorsichtig unter ihn, legte die Lippen auf die Biegung seines Halses und küsste ihn dankbar wieder und wieder.
Meridion lag auf dem Laken, starrte sie in der Dunkelheit an und blinzelte.
»Ich hätte es wissen sollen«, murmelte Rhapsody und lächelte ihren Sohn an. »Ich wusste, dass du zurückkommen würdest. Ich wusste nur nicht, dass du schon die Macht der Drachen besitzt, Träume zu verscheuchen. Meine Güte, du bist vielleicht ein besonderer Junge.«
Das Kind gluckste.
Im Nördlichen Gwynwald hinter dem Tar’afel
Wenn Melisande nicht zweihundert Waldläufer aufsitzen und in den Wald um sie herum reiten gesehen hätte, und wenn sie nicht beobachtet hätte, wie weitere fünfhundert zu Fuß in dem dichten Wald hinter ihnen verschwanden, dann wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, dass sie und Gavin nicht mutterseelenallein auf ihrer Reise waren.
Die berittenen Männer, die sie in den letzten Wochen vom Kreis aus begleitet hatten, waren kurz nach der Durchquerung des Tar’afel in zwei Hauptrichtungen aufgebrochen. Nun ritten sie nach Norden und Westen mit der aufgehenden Sonne im Rücken zum äußersten Rand des Drachenlandes. Der Fürbitter hatte ihr erklärt, dass nur diejenigen Späher, die den weitesten Weg hatten, weiterhin reiten würden. Die Waldläufer waren viel schneller und leiser, wenn sie zu Fuß durch die Schluchten mit unberührtem Wald reisten, die Elynsynos’ Land umgaben. Auf seinem Gesicht hatte sich nicht das schwächste Lächeln abgezeichnet, als er weiterhin erklärt hatte, dass die Waldläufer einen Drachen nicht mit Pferdefleisch in Versuchung führen wollten, es sei denn, die Entfernung machte es unumgänglich. Die junge Herrin von Navarne hatte von ihrem Pferd aus, einer stämmigen, grau gescheckten Waldstute, seinen Erklärungen gelauscht.
»Warum reiten wir dann, wenn der Weg zu Fuß leichter ist?«, hatte sie gefragt.
Nun hatte der bärtige Führer der Filiden gelächelt. »Haltet Ihr Euch neben all Euren anderen Fertigkeiten auch noch für eine Waldläuferin, Herrin Melisande von Navarne?« Er hatte sich rasch abgewandt, als ihr Gesicht die Farbe gewechselt hatte, doch die Sanftheit seiner Stimme hatte ihre Eitelkeit nicht vernichtet, auch wenn sie beinahe an ihrer eigenen Dummheit erstickt wäre.
Sobald Gavins Truppe außer Sichtweite war, stieg der Fürbitter auf sein eigenes Pferd, einen lirinischen Rotschimmel, der ihm als Tributleistung von den tyrianischen Grenzwachen gegeben worden war. Er ergriff die Zügel von Melisandes Stute und ritt langsam in den Wald hinein. Zuerst hielt sich Melisande am Zaumzeug ihres Reittieres fest, doch bald erkannte sie, dass die ruhigen Leittöne des Fürbitters die Pferde um Reisighaufen und tiefere Löcher im moosigen Waldboden herum führten und für einen leidlich gleichmäßigen Ritt sorgten.
Schweigend reisten sie nach Nordwesten und folgten dem Pfad der Sonne, die durch die knospenden Blätter des uralten Waldes schien und zarte Schatten auf den Grund vor ihnen warf. Melisande bemühte sich, im Sattel wach zu bleiben. Zu der Erschöpfung infolge ihrer Mission kam ein traumhaftes, einlullendes Gefühl hinzu, dass sie umso fester umhüllte, je tiefer sie in den Wald eindrangen. Ihre Augenlider wurden schwer, als die Sonne im Himmelsgewölbe niederstieg, und beim Einsetzen der Dämmerung war sie eingeschlafen und wurde nur noch von den härtesten Stößen für kurze Zeit wieder wach. Sie ergab sich ganz der Empfindung, die gesamte umhertaumelnde Welt zu reiten, war wehrlos gegen die Macht dieser Bewegung und legte schließlich das Kinn auf die Brust. Den größten Teil der Strecke döste sie vor sich hin, während Gavins geschickte Hand und das sanfte Pferd sie leiteten.
Sie träumte gerade von ihrer Mutter, oder wenigstens von einer Frau, die wie das Gemälde ihrer Mutter über dem Kamin in der Bibliothek ihres Vaters aussah, als sie spürte, dass sich die Welt nicht mehr drehte. Ruckartig erwachte Melisande. Das Licht war aus dem Himmel verschwunden und hinterließ nur eine Andeutung von Aquamarinblau, das durch die Blätter im Westen spähte, während Wolken über das dunkle Firmament hoch über ihr zogen.
Sie sah sich nach dem Fürbitter um und erkannte sein Pferd einige Fuß hinter ihrem eigenen, doch der Sattel des Rotschimmels war leer.
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