»Miss Gray! Miss Lovelace!«, rief Sophie in dem Moment atemlos durch den Flur. In einer Hand hielt sie den schlanken Schlüssel zum Sanktuarium. Als sie die beiden anderen Mädchen erreichte, blieb sie abrupt stehen und starrte mit offenem Mund auf Nate.
»Ist alles in Ordnung mit ihm?«
»Wen interessiert es schon, ob mit ihm alles in Ordnung ist?«, schnaubte Jessamine, bückte sich und hob das Messer auf, das Nates Hand entglitten war.
»Nach all den Lügen, die er uns aufgetischt hat! Er hat es gewagt, mich zu belügen! Ich hatte wirklich gedacht ...« Sie verstummte und lief feuerrot an. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Dann richtete sie sich auf, drehte sich zu Sophie und hob das Kinn.
»Jetzt steh doch nicht tatenlos herum, Sophie! Lass uns endlich ins Sanktuarium, bevor Gott weiß noch was uns nachsetzt und uns alle erneut zu töten versucht.«
Will stürmte die Eingangsstufen des Herrenhauses hinunter, dicht gefolgt von Jem. Der Vollmond warf sein silbernes Licht auf den hell schimmernden Rasen und die dunkle Kutsche, die am unteren Ende der Auffahrt auf die beiden Schattenjäger wartete — noch genau an der Stelle, wo sie sie zurückgelassen hatten. Jem registrierte mit Erleichterung, dass die Pferde trotz des ganzen Lärms offenbar nicht gescheut hatten. Andererseits konnte er sich gut vorstellen, dass Balios und Xanthos als erfahrene Streitrosse der Nephilim wahrscheinlich schon deutlich Schlimmeres gesehen hatten. »Will«, rief er leise und kam schlitternd neben seinem Freund zum Stehen, wobei er die Tatsache zu verbergen versuchte, dass ihn der kurze Sprint völlig außer Atem gebracht hatte, »wir müssen sofort zum Institut zurückkehren!«
»Da werde ich dir ganz bestimmt nicht widersprechen«, murmelte Will und warf Jem einen scharfen Blick zu.
Jem fragte sich, ob sein Gesicht wohl so gerötet und fiebrig wirken mochte, wie er befürchtete. Das Mittel, von dem er vor dem Aufbruch eine größere Dosis eingenommen hatte, verlor schneller an Wirkung als normalerweise. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ihn diese Erkenntnis mit großer Sorge erfüllt, doch nun schob er den Gedanken einfach beiseite. »Glaubst du, Mortmain hat erwartet, dass wir Mrs Dark töten würden?«, fragte er — nicht weil ihn die Frage so dringend beschäftigte, sondern weil er ein paar Sekunden gewinnen wollte, um wieder zu Atem zu kommen, bevor sie in die Kutsche kletterten.
Will knöpfte seine Jacke auf und wühlte in einer der Innentaschen. »Könnte ich mir gut vorstellen«, sagte er, leicht geistesabwesend. »Möglicherweise hat Mortmain aber auch gehofft, wir würden uns gegenseitig umbringen — was für ihn natürlich ideal gewesen wäre. Und offensichtlich will er auch de Quinceys Kopf und hat deshalb beschlossen, die Nephilim als seine persönliche Vollstreckertruppe zu benutzen«, fügte er hinzu, zog ein Klappmesser aus der Jackentasche und betrachtete es zufrieden. »Ein einzelnes Pferd«, sinnierte er, »ist viel schneller als eine Kutsche.«
Jems Griff um den Käfig in seiner Hand verstärkte sich. Der graue Kater hinter den Gitterstäben schaute sich mit gelben Augen interessiert um. »Bitte sag mir, dass du nicht das planst, was ich befürchte, Will.«
Will ließ das Messer aufschnappen und marschierte die Auffahrt hinunter. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, James. Und Xanthos kann die Kutsche ganz hervorragend allein ziehen, zumal er ja nur dich transportieren muss.«
Jem versuchte, ihm zu folgen, doch der schwere Käfig und seine eigene Erschöpfung behinderten sein Vorankommen. »Was willst du denn mit dem Messer? Du wirst doch nicht eines der Pferde töten, oder?«
»Natürlich nicht«, schnaubte Will, hob die Klinge und schlug auf das Geschirr ein, das sein Lieblingspferd Balios mit der Kutsche verband.
»Ah, ich verstehe«, meinte Jem. »Du willst dich wie Dick Turbin auf dem Pferd davonmachen und mich hier allein zurücklassen. Hast du vollends den Verstand verloren?«
»Irgendjemand muss sich ja um den Kater kümmern«, erwiderte Will, während die Ledergurte und Zugriemen herabfielen und er sich auf Balios’ Rücken schwang.
»Aber ...« Inzwischen ernsthaft beunruhigt, setzte Jem den Käfig ab. »Will, das kannst du nicht ...«
Doch es war bereits zu spät: Will grub dem Pferd die Fersen in die Flanken, woraufhin Balios sich wiehernd aufbäumte. Aber Will klammerte sich geschickt an der Mähne fest — und Jem hätte schwören können, dass sein Freund dabei breit grinste. Dann wirbelte Balios herum, preschte durch das Tor davon und innerhalb der nächsten Sekunde waren Ross und Reiter in der Dunkelheit verschwunden.
Machte sie mein, vom ersten süßen Odem.
Mein, mein — mein rechtmäßig’ Eigen, von Geburt bis zum Tode,
Mein, mein — wie uns’re Väter es geschworen.
Alfred Lord Tennyson, »Maud«
Als die Türen des Sanktuariums sich hinter ihnen schlossen, schaute Tessa sich besorgt um: Der Raum war dunkler als bei ihrem letzten Besuch, denn dieses Mal brannten keine Kerzen in den großen Messingleuchtern und nur die flackernden Elbenlichter an den Wänden spendeten etwas Licht. Dagegen ergoss die Engelsstatue noch immer ihren endlosen Tränenstrom in das steinerne Becken, aus dem eine eisige Kälte aufstieg, die Tessa schaudern ließ.
Sophie steckte den Eisenschlüssel wieder in die Schürzentasche und zog eine sorgenvolle Miene. »Da wären wir also«, murmelte sie nervös. »Schrecklich kalt ist es hier.«
»Ach, halb so schlimm — wir werden gewiss nicht lange hierbleiben müssen«, erwiderte Jessamine. Sie hielt noch immer Nates Messer in der Hand, dessen Klinge im Elbenlicht glitzerte. »Irgendjemand wird schon zurückkehren, um uns zu retten. Will oder Charlotte ...«
»Und dann als Erstes feststellen, dass es im Institut vor Klockwerk-Monstern nur so wimmelt«, erinnerte Tessa sie. »Von Mortmain ganz zu schweigen«, fügte sie schaudernd hinzu. »Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Rettung wirklich so leicht vonstattengehen wird, wie du es darstellst.«
Jessamine maß Tessa aus kalten dunklen Augen.
»Du brauchst nun wirklich nicht so zu tun, als wäre das Ganze meine Schuld. Wenn du nicht gewesen wärst, säßen wir erst gar nicht in dieser Klemme.«
Sophie, die ein paar Schritte gegangen war, stand nun zwischen zwei wuchtigen Steinpfeilern und wirkte sehr schmächtig. Ihre Stimme hallte von den kalten Mauern wider: »Das ist nicht sehr nett, Miss.«
Doch Jessamine ignorierte sie und hockte sich missmutig auf den Beckenrand des Brunnens, nur um sofort wieder hochzuschnellen. Stirnrunzelnd wischte sie über die Rückseite ihres Kleids, das jetzt dunkle feuchte Flecken aufwies, und schnaufte aufgebracht.
»Das mag vielleicht nicht nett sein, aber es entspricht nun mal der Wahrheit. Der Magister ist nur aus einem einzigen Grund hier — wegen Tessa!«
»Ich habe Charlotte gesagt, dass das alles meine Schuld ist«, bemerkte Tessa leise. »Ich habe ihr gesagt, sie solle mich fortschicken. Aber sie wollte nichts davon hören.«
Jessamine warf den Kopf in den Nacken. »Charlotte ist einfach viel zu weichherzig und das Gleiche gilt für Henry. Und Will ... der denkt, er sei Galahad. Er will ständig alles und jeden retten. Genau wie Jem. Keiner von beiden denkt auch nur ein bisschen praktisch.«
»Aber wenn es nach dir gegangen wäre ...«, setzte Tessa an.
»Hättest du im Nu auf der Straße gestanden, allenfalls mit ein paar warmen Worten zum Abschied«, ergänzte Jessamine und rümpfte die Nase. Als sie sah, wie Sophie sie entgeistert anstarrte, fügte sie hinzu:
»Also, wirklich! Jetzt sei doch nicht so ein Duckmäuser, Sophie. Agatha und Thomas würden schließlich noch leben, wenn ich hier das Sagen gehabt hätte, oder etwa nicht?«
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