Was passierte hier? Thrall blickte zu Drek’Thar hinüber, der entspannt und ausdruckslos schien.
So sei es denn. Wer auch immer der Fremde war, er hatte Thrall und die Eiswölfe beleidigt, und der junge Schamane war bereit, seine Ehre und die seines Clans mit seinem Leben zu verteidigen.
Er hatte keine Waffe, aber Uthul drückte Thrall einen langen, scharfen Speer in die ausgestreckte Hand. Thralls Finger schlossen sich um den Schaft, und er begann mit den Füßen zu stampfen.
Er fühlte, wie der Geist der Erde fragend reagierte. So höflich er konnte, denn er hatte nicht die Absicht, das Element zu verärgern, lehnte er das Hilfsangebot ab. Dies war kein Kampf für die Elemente; hier gab es keine große Not – nur Thralls Wunsch, diesem überheblichen Fremden eine dringend nötige Lektion zu erteilen.
Trotzdem fühlte er wie die Erde unter seinen stampfenden Füßen erzitterte. Der Fremde blickte erschreckt, dann seltsam befriedigt. Bevor sich Thrall richtig vorbereiten konnte, begann sein schwer gerüstetes Gegenüber seinen Angriff.
Thrall hob den Speer, um sich zu verteidigen, doch seine Waffe war niemals dazu gedacht gewesen, den Schlag eines riesigen Kriegshammers abzuschmettern. Wie ein dürrer Zweig brach der Speer entzwei. Thrall blickte sich um, aber es gab keine andere Waffe. Er bereitete sich auf den nächsten Schlag seines Gegners vor und entschloss sich, die Strategie anzuwenden, die ihm in der Vergangenheit so gut gedient hatte, wenn er waffenlos gegen einen bewaffneten Gegner hatte antreten müssen.
Wieder schwang der Fremde seinen Hammer. Thrall wich aus und wirbelte geschickt herum, um die Waffe zu packen, die er ihrem Besitzer entreißen wollte. Als er seine Hände um den Stiel schloss, zerrte der Fremde sie zu seinem Erstaunen mit einem schnellen Ruck zurück. Thrall fiel nach vorne, und der Fremde setzte sich auf seinen gefallenen Körper.
Thrall zappelte wie ein Fisch, und es gelang ihm, sich auf die Seite zu werfen, während er eines der Beine seines Feindes fest zwischen seinen eigenen Knöcheln packte. Der Fremde verlor die Balance. Jetzt waren sie beide am Boden. Thrall hämmerte seine geballte Faust auf das Handgelenk hinunter, das den Kriegshammer hielt. Der Fremde grunzte und ließ reflexartig los. Thrall ergriff die Gelegenheit, packte den Kriegshammer und sprang auf die Füße, wobei er die Waffe hoch über seinen Kopf schwang.
Er fing sich gerade noch rechtzeitig. Er stand kurz davor, mit der gewaltigen Steinwaffe den Schädel seines Gegners zu zerschmettern. Aber dies war ein Ork wie er selbst, nicht ein Mensch, dem er sich auf dem Schlachtfeld stellte. Dies war ein Gast seines Lagers und ein Krieger, neben dem zu dienen er stolz wäre, wenn er und Hellscream erst die Lager stürmten, um ihre gefangenen Brüder und Schwestern zu befreien.
Sein Zögern und das schiere Gewicht der Waffe brachten ihn ins Stolpern. Das war alles, was der Fremde brauchte. Knurrend setzte er den gleichen Trick ein, den Thrall zuvor gegen ihn angewendet hatte und trat Thralls Füße unter ihm weg. Noch immer den Kriegshammer haltend, stürzte Thrall. Bevor ihm überhaupt klar wurde, was geschah, war der andere Ork über ihm und schloss seine Hände um seinen Hals.
Thralls Welt wurde rot. Der Instinkt übernahm die Kontrolle, und er wand sich. Dieser Ork war beinahe so groß wie er selbst und trug zudem eine Rüstung, aber Thralls wilder Wunsch nach Sieg und seine größere Masse schenkten ihm den Vorteil, den er brauchte, um seinen Körper herum zu biegen und den anderen Krieger unter sich einzuklemmen.
Hände packten ihn und zogen ihn fort. Er brüllte, die heiße Blutlust in ihm verlangte Befriedigung, und er wehrte sich. Es bedurfte acht seiner Eiswolf-Gefährten, um ihn lange genug am Boden zu halten, dass sich der rote Nebel klären und sein Atem sich normalisieren konnte. Als er nickte und bedeutete, dass er wieder in Ordnung sei, erhoben sie sich und ließen ihn allein aufstehen.
Vor ihm stand der Fremde. Thrall begegnete seinen Augen ruhig, während er noch von der Anstrengung keuchte. Der Fremde erhob sich zu seiner vollen Größe und gab ein gewaltiges bellendes Lachen von sich.
»Es ist lange her, seit irgendjemand mich auch nur herausfordern konnte!«, brüllte er fröhlich, und es schien ihn nicht im Geringsten zu kümmern, dass es Thrall beinahe gelungen wäre, seine Eingeweide in die Erde zu stampfen. »Und es ist noch länger her, dass irgendjemand mich schlagen konnte, und sei es auch nur in einer harmlosen Balgerei. Nur deinem Vater ist das jemals gelungen, junger Thrall. Möge sein Geist in Frieden wandeln. Es scheint, Hellscream hat nicht gelogen. Ich glaube, ich habe meinen Stellvertretenden Kommandeur gefunden.«
Er reichte Thrall die Hand. Thrall starrte sie an und fauchte: »Stellvertretender Kommandeur? Ich habe dich mit deiner eigenen Waffe geschlagen, Fremder. Ich weiß nicht, nach welchem Regelwerk der Sieger der Zweite wäre!«
»Thrall!« Drek’Thars Stimme krachte wie ein einschlagender Blitz.
»Er versteht noch nicht«, kicherte der Fremde. »Thrall, Sohn des Durotan, ich bin einen weiten Weg gekommen, um dich zu finden, um zu sehen, ob die Gerüchte wahr sind – dass es einen würdigen Stellvertretenden Kommandeur gibt, den ich unter meine Fittiche nehmen und dem ich vertrauen kann, wenn ich die Lager befreie.«
Er machte eine Pause, und in seinen Augen funkelte das Lachen.
»Mein Name, Sohn des Durotan, ist Orgrim Doomhammer.«
Zunächst brachte Thrall vor Schreck kein Wort heraus. Er hatte Orgrim Doomhammer beleidigt, den Kriegshäuptling der Horde, den besten Freund seines Vaters, jenen einen Ork, der für ihn während all der Zeit eine solche Inspiration gewesen war. Die Rüstung und der Kriegshammer hätten es ihm sofort verraten müssen. Was für ein Narr er gewesen war!
Er sank auf die Knie. »Edelster Doomhammer, ich bitte Euch um Vergebung. Ich wusste nicht …« Er warf Drek’Thar einen grimmigen Blick zu. »Mein Lehrer hätte mich warnen sollen …«
»… und das hätte alles verdorben«, antwortete Doomhammer, der noch immer ein wenig lachte. »Ich wollte dich herausfordern, sehen, ob du tatsächlich die Leidenschaft und den Stolz besitzt, von denen Grom Hellscream mit solcher Begeisterung sprach. Ich bekam mehr, als ich erwartet hatte … ich wurde geschlagen!« Er lachte laut, als sei es die amüsanteste Sache, die ihm seit Jahren widerfahren war. Thrall begann sich zu entspannen. Doomhammer hörte auf zu lachen und legte sanft eine Hand auf die Schulter des jungen Orks.
»Komm und setz dich zu mir, Thrall, Sohn des Durotan«, sagte er. »Wir werden zu Ende essen. Du erzählst mir deine Geschichte, und ich erzähle dir Geschichten von deinem Vater, die du noch niemals gehört hast.«
Freude überflutete Thrall. Instinktiv griff er nach der Hand, die auf seiner Schulter lag. Doomhammer war plötzlich ernst, blickte Thrall in die Augen und nickte.
Jetzt, da alle wussten, wer der geheimnisvolle Fremde war – Drek’Thar gab zu, dass er es die ganze Zeit gewusst und tatsächlich sogar Wiseear ausgesandt hatte, um Doomhammer für genau diese Konfrontation zu suchen –, konnten die Eiswölfe ihren hochverehrten Gast mit dem Respekt behandeln, der ihm gebührte. Sie holten mehrere Hasen, die sie eigentlich für später hatten trocknen wollen, bestrichen sie mit wertvollen Ölen und Kräutern und begannen, sie über dem Feuer zu rösten. Weitere Kräuter wurden den Flammen hinzugegeben, und ihr würziges Aroma erhob sich mit dem Rauch. Es war beinahe berauschend. Trommeln und Flöten wurden hervorgeholt, und bald verbanden sich Musik und Gesang mit dem anregenden Rauch. Sie sandten eine Botschaft der Verehrung und der Freude an die Geisterwelt.
Thrall war zunächst gehemmt, aber Doomhammer entlockte ihm seine Geschichte, indem er gezielt Fragen stellte. Als Thrall fertig war, sprach er nicht sofort.
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