»Lady Sonea.«
Sonea blickte auf, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Tania!«
Beim Anblick der Dienerin stiegen lieb gewordene Erinnerungen an frühmorgendliches Geplauder in Sonea auf, und ein Stich der Sehnsucht durchzuckte sie. Dann klopfte sie auf den Stuhl neben ihren, und Tania setzte sich.
»Wie geht es Euch?«, fragte Tania. Etwas im Gesichtsausdruck der Dienerin weckte in Sonea den Verdacht, dass sie keine positive Antwort erwartete.
»Gut.« Sonea zwang sich zu einem Lächeln.
»Ihr seht müde aus.«
Sonea zuckte die Achseln. »Ich bin abends zu oft spät ins Bett gekommen. Es gibt so viel zu lernen. Und wie geht es dir? Hält Rothen dich immer noch in Atem?«
Tania kicherte. »Er macht mir keine Mühe, obwohl er Euch schrecklich vermisst.«
»Ich vermisse ihn ebenfalls - und dich auch.«
»Ich habe einen Brief für Euch, Mylady«, sagte Tania. Sie zog ihn aus ihrem Gewand und legte ihn auf den Tisch. »Rothen meinte, er sei von Eurer Tante und Eurem Onkel und Ihr würdet ihn vielleicht gleich lesen wollen, deshalb habe ich mich erboten, ihn hierher zu bringen.«
Sonea griff eifrig nach dem Brief. »Danke.« Sie riss ihn auf und begann zu lesen. Die Schrift war steif und unpersönlich. Da ihre Tante und ihr Onkel nicht schreiben konnten, mussten sie, wenn sie einen Brief schicken wollten, die Dienste eines Schreibers in Anspruch nehmen.
»Meine Tante bekommt noch ein Kind!«, rief Sonea. »Oh, ich wünschte, ich könnte sie sehen.«
»Aber das könnt Ihr doch«, erwiderte Tania. »Die Gilde ist kein Gefängnis, wie Ihr wisst.«
Sonea sah die Frau nachdenklich an. Natürlich wusste Tania nichts über Akkarin. Aber Akkarin hatte nie gesagt, dass sie ihre Familie nicht besuchen dürfe. Und er hatte ihr nie verboten, die Gilde zu verlassen. Die Wachen am Tor würden sie nicht aufhalten. Sie konnte einfach in die Stadt spazieren und gehen, wohin sie wollte. Akkarin würde es nicht gefallen, aber da er sie gezwungen hatte, die geheimen Gänge zu verlassen und sich auf Gedeih und Verderb Regins Bande auszuliefern, verspürte sie keinen allzu großen Drang, sich fügsam zu zeigen.
»Du hast Recht«, sagte Sonea langsam. »Ich werde sie besuchen. Noch heute.«
Tania lächelte. »Sie werden sich bestimmt freuen, Euch wiederzusehen.«
»Ich danke dir, Tania«, erwiderte Sonea und erhob sich. Die Dienerin verbeugte sich, immer noch lächelnd, und ging auf die Bibliothekstür zu.
Mit einem wachsenden Gefühl der Erregung packte Sonea ihre Bücher wieder in ihren Koffer. Sie konnte sich mühelos durch die Stadt bewegen. Niemand würde sich über die Anwesenheit eines Magiers auf den Straßen den Kopf zerbrechen, nicht einmal wenn es sich dabei um einen Novizen handelte. Aber sobald sie die Hüttenviertel erreichte, würde ihre Robe Aufmerksamkeit erregen, wahrscheinlich sogar Feindseligkeit. Das war ein Problem, das sie bei ihren früheren Besuchen nicht hatte bedenken müssen, da sie damals noch keine Novizin gewesen war. Obwohl sie sich natürlich mit Magie gegen Wurfgeschosse oder andere Schikanen schützen konnte, wollte sie nicht, dass irgendjemand ihr folgte, ebenso wenig wie sie den Wunsch hatte, Aufmerksamkeit auf ihre Familie zu lenken.
Das Gesetz besagte jedoch, dass sie zu jeder Zeit die Uniform der Magier tragen müsse. Zwar machte es ihr nicht allzu viel aus, das Gesetz zu brechen, aber wo sollte sie in die schäbigen Kleidungsstücke schlüpfen, die ihr in den Hüttenvierteln als Tarnung dienen konnten - vorausgesetzt, es gelang ihr überhaupt, solche Kleidung zu finden?
Wenn sie ins Nordviertel kam, konnte sie auf dem Markt einen Mantel oder einen Umhang kaufen. Dafür benötigte sie jedoch Geld, und ihre Barschaft befand sich in ihrem Zimmer in der Residenz des Hohen Lords. Sie dachte noch einmal über ihren Plan nach. Wollte sie aus Angst vor Akkarin auf einen Besuch bei ihrer Familie verzichten? Nein. Er hielt sich tagsüber nur selten in der Residenz auf. Wahrscheinlich würde sie ihm überhaupt nicht begegnen.
Entschlossen griff sie nach ihrem Bücherkoffer, verbeugte sich vor Lady Tya und verließ die Bibliothek. Als sie durch die Flure der Universität ging, lächelte sie. Sie würde außerdem auch ein Geschenk für ihre Tante und ihren Onkel kaufen - und vielleicht würde sie anschließend in Gollins Gasthaus vorbeischauen, um Harrin und Donia zu sehen und sich nach Cery zu erkundigen.
Als sie die Residenz des Hohen Lords betrat, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Zu ihrer Erleichterung war Akkarin nicht zu Hause, und sein Diener, Takan, erschien nur lange genug, um sich respektvoll vor ihr zu verbeugen und wieder zu verschwinden. Sie stellte ihren Bücherkoffer beiseite, schob sich einen Geldbeutel in ihre Robe und verließ ihr Zimmer. Als die Tür der Residenz hinter ihr zufiel, drückte sie den Rücken durch und ging auf die Tore zu.
Die Wachen musterten sie neugierig. Wahrscheinlich hatten sie sie noch nie zuvor gesehen, da sie bei den wenigen Malen, die sie die Gilde verlassen hatte, stets zusammen mit Rothen in einer Kutsche gefahren war. Vielleicht war es einfach merkwürdig, einen Novizen zu Fuß fortgehen zu sehen.
Sobald sie den Inneren Ring erreicht hatte, fühlte sie sich seltsam fehl am Platze. Früher hatte sie diesen Teil der Stadt nur besucht, um bei den Dienern der Häuser reparierte Schuhe und Kleidungsstücke abzuliefern. Bei diesen Besuchen hatten die gut gekleideten Männer und Frauen im Inneren Ring sie voller Argwohn und Verachtung betrachtet, und sie hatte häufig ihren Passierschein vorzeigen müssen.
Dieselben Menschen verbeugten sich jetzt mit einem höflichen Lächeln vor ihr. Es fühlte sich seltsam und unwirklich an. Das Gefühl verstärkte sich noch, als sie durch die Tore ins Nordviertel trat. Die Torwächter salutierten vor ihr und hielten sogar eine Kutsche des Hauses Korin an, damit sie ohne Verzögerung vorbeigehen konnte.
Im Nordviertel gab es keine höflichen Verbeugungen und kein Lächeln mehr, sondern nur noch starre Blicke. Nachdem sie einige hundert Schritte gegangen war, änderte Sonea ihre Meinung, was den Besuch auf dem Markt betraf. Stattdessen trat sie in ein Haus, vor dem ein Schild »hochwertige Kleidung und Änderungen« anbot.
»Ja?« Eine grauhaarige Frau öffnete die Tür, und als sie eine junge Magierin vor sich sah, stieß sie einen Laut der Überraschung aus. »Mylady! Was kann ich für Euch tun?«, fragte sie und verbeugte sich hastig.
Sonea lächelte. »Ich würde gern einen Umhang kaufen.«
»Kommt herein! Kommt herein!« Die Frau zog die Tür weit auf und verbeugte sich abermals, als Sonea an ihr vorbeiging. Sie führte sie in einen Raum, in dem an etlichen hohen Ständern Kleidungsstücke hingen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas habe, das Euren Ansprüchen genügt«, sagte die Frau entschuldigend, während sie mehrere Umhänge von den Ständern nahm. »Dieser hier hat einen Besatz aus Limek-Pelz um die Kapuze, und dieser hat einen perlenbestickten Saum.«
Sonea, die der Versuchung nicht widerstehen konnte, nahm die Umhänge in Augenschein. »Das ist wirklich gute Arbeit«, bemerkte sie und strich über den mit Perlen bestickten Umhang. »Allerdings bezweifle ich, dass dieser Pelz wirklich von einem Limek stammt. Limeks haben stärkeres Unterhaar.«
»Oje!«, rief die Frau und riss den Umhang wieder an sich.
»Aber das ist es ohnehin nicht, wonach ich suche«, fügte Sonea hinzu. »Ich brauche etwas Altes, das schon ein wenig abgetragen ist - nicht dass ich erwartet hätte, hier irgendetwas von schlechter Qualität zu finden. Hat eine Eurer Dienerinnen vielleicht einen Mantel, der so aussieht, als müsste man ihn eigentlich wegwerfen?«
Die Frau starrte Sonea überrascht an. »Ich weiß nicht …«, sagte sie zweifelnd.
»Warum fragt Ihr sie nicht schnell«, schlug Sonea vor, »während ich einige Eurer Waren bewundere.«
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