Und ich war dankbar, daß sich der Höchste Wissende Ars eingemischt hatte. Der Priester winkte jetzt den anderen zu, die sich um uns drängten.
»Tretet zurück!« sagte er, und man gehorchte sofort.
Ich spürte, daß er mich allein sprechen wollte, und bat Vika, sich ebenfalls einige Schritte zu entfernen.
Der Höchste Wissende Ars musterte mich. Und plötzlich sah ich ihn nicht mehr als Gegner, und ich spürte, daß auch er seine Feindseligkeit aufgegeben hatte.
»Weißt du über das Sardargebirge Bescheid?« fragte ich.
»Ausreichend«, sagteer.
»Warum das alles?«
»Das wäre für dich nicht zu verstehen.«
»Sprich trotzdem«, sagte ich.
»Bei den meisten«, sagte er, »verhält es sich so, wie du an-; nimmst – es sind einfache, gläubige Mitglieder meiner Kaste. Dann gibt es andere, die die Wahrheit ahnen und in Qual leben " oder die so tun, als ob. Aber ich, Om, Höchster Wissender Ars, und gewisse andere Höchste Wissende sind anders.«
»Und inwieweit unterscheidet ihr euch?«
»Ich . . . und einige andere ... wir warten auf den Menschen.« l Er blickte mich an. »Und der Mensch ist noch nicht bereit.«
»Wofür?«
»Um an sich selbst zu glauben«, sagte Om, und ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Er lächelte. »Ich und andere haben versucht, die Kluft offen zu halten, auf daß er erkenne und sie fülle. Einige haben das getan – aber noch nicht viele.«
»Und welche Kluft wäre das?«
»Wir wenden uns nicht an das Herz des Menschen«, sagte Om, »sondern an seine Ängste. Wir sprechen nicht von Liebe und Mut und Loyalität – sondern von Zeremonien und Gehorsam und von den Strafen der Priesterkönige – denn täten wir es nicht, fiele es den Menschen viel schwerer, über das hinauszuwachsen, was sie jetzt sind. Und so kommt es, daß wir – was vielen Mitgliedern meiner Kaste nicht bekannt ist – eigentlich nur existieren, um eines Tages überflüssig zu werden und somit auf unsere Weise dem Menschen den Weg zur Größe zu weisen.«
Ich musterte den Wissenden und fragte mich, ob er die Wahrheit sprach.
Solche Worte hatte ich von einem Angehörigen seiner Kaste noch nicht gehört.
»Und aus diesem Grunde«, fuhr der Mann fort, »bin ich überhaupt in meiner Kaste geblieben.«
»Es gibt die Priesterkönige«, sagte ich schließlich.
»Ich weiß«, entgegnete Om. »Aber was haben sie mit den Dingen zu tun, die für den Menschen wirklich wichtig sind?«
Ich überlegte einen Augenblick. »Sehr wenig«, sagte ich dann.
»Geh in Frieden«, sagte Om und trat zur Seite. »Ich habe niemanden aus dem Sardargebirge kommen sehen.«
»Ich auch nicht«, fielen andere ein.
Durch die Gasse der Wissenden schritten Vika und ich, traten unter das ruinierte Tor, das einmal das Sardargebirge abgesperrt hatte.
–
»Vater!« rief ich, »mein Vater!«
Ich eilte in die Arme Matthew Cabots, der mich weinend an sich drückte.
Wieder einmal sah ich jenes starke, faltige Gesicht vor mir, das vorgeschobene Kinn, den wilden rotflammenden Haarschopf, die grauen Augen.
Und schon versetzte mir jemand einen heftigen Schlag gegen die Schulter, und ich fuhr herum und sah mich dem riesigen Älteren Tarl gegenüber, meinem ehemaligen Waffenmeister.
Und noch eine dritte Gestalt galt es zu begrüßen, die mit einer riesigen Schriftrolle wedelte.
»Torrn!« rief ich aus.
Ich riß den schmächtigen Mann von den Füßen, wirbelte ihn herum, und seine Roben flogen hoch. Torrn aus der Kaste der Schriftgelehrten stieß einen Freudenschrei aus. Vorsichtig setzte ich ihn wieder ab.
»Wo ist Talena?« fragte ich meinen Vater.
Doch das Gesicht Matthews wurde ernst und meine Freude verflog.
»Wir wissen es nicht«, sagte der Ältere Tarl.
Mein Vater nahm mich bei den Schultern. »Mein Sohn – die Einwohner Ko-ro-bas wurden in alle Winde verstreut. Du kennst das Verbot der Priesterkönige.«
»Aber jetzt seid ihr hier.«
»Wir haben uns zufällig getroffen – und da die Welt ohnehin unterzugehen schien, wollten wir zusammen sterben!«
»Ob Talena vielleicht auch kommt?« fragte ich meinen Vater.
»Das möchte ich bezweifeln«, sagte er.
Ich gab ihm insgeheim recht, denn ich wusste, wie gefährlich es für eine goreanische Frau ist, allein zu reisen.
»Verzeih mir, Vika«, sagte ich und stellte das Mädchen in der Runde vor.
Dann schilderte ich mit knappen Worten meine Abenteuer im Sardargebirge.
Mein Vater, der Ältere Tarl und Torrn hörten verblüfft zu.
»Ja«, sagte Matthew schließlich, »ein erstaunlicher Bericht.«
»In der Tat«, bemerkte der Ältere Tarl.
»Nun«, fügte Torrn nachdenklich hinzu, dem es nach seinem Kastendenken nicht anstand, schnell eine Meinung zu äußern. »Deine Worte widersprechen keinen Texten, die ich kenne.«
Ich lachte.
»Trotzdem scheint es geraten, möglichst wenig von diesen Dingen zu sprechen.«
Ich sah meinen Vater an. »Es tut mir leid, daß Ko-ro-ba vernichtet wurde«, sagte ich.
Matthew lachte. »Aber Ko-ro-ba ist gar nicht vernichtet!« sagte er.
Ich starrte ihn verblüfft an. Hatte ich nicht selbst das leere Tal gesehen, in dem die Stadt früher gestanden hatte?
»Hier«, sagte mein Vater und griff in einen Lederbeutel, den er über der Schulter trug. »Hier ist Ko-ro-ba.« Und erzog den kleinen, flachen Heimstein der Stadt heraus – in dem sich nach goreanischer Anschauung Wesen und Eigenart der Stadt vereinen. »Ko-ro-ba kann nicht vernichtet sein, solange sein Heimstein besteht!«
Mein Vater hatte den Heimstein an sich genommen, ehe die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde. Jahrelang hatte er ihn bei sich getragen.
Ich nahm den kleinen Stein in die Hände und küßte ihn, denn er war der Heimstein jener Stadt, der ich mein Schwert verschrieben hatte – die Stadt, in der ich meinen ersten Tarn geritten, meinen Vater wiedergesehen und Freunde gewonnen hatte, die Stadt, in der Talena, meine Liebe, Tochter Marlenus’, einst Ubar von Ar, meine Freie Gefährtin geworden war!
»Und auch hier ist Ko-ro-ba!« sagte ich und deutete in die Runde.
Die Männer nickten.
»Wie ich deinem Bericht entnehme«, sagte mein Vater, »scheint das Verbot der Priesterkönige aufgehoben – die Menschen aus Ko-ro-ba können wieder zusammenkommen.«
»Ja«, sagte ich.
Mein Vater und der Ältere Tarl und Torrn sahen sich an. »Gut«, sagte mein Vater. »Wir müssen die Stadt wieder aufbauen!«
»Diese Neuigkeit wird sich schnell verbreiten«, sagte Torrn, »und viele werden wiederkommen!«
Ich spürte Vikas Hand. »Und du musst losziehen und sie suchen«, sagte sie leise. »Ich möchte es so!«
Ich schaute auf sie hinab. Sie wusste, daß ich nicht anders konnte. Ich musste Talena finden, meine Liebe, das Mädchen, das ich zu meiner Freien Gefährtin gemacht hatte.
»Und was wirst du tun?« fragte ich.
»Mir bleibt nichts zu tun«, sagte Vika und begann zu weinen.
»Du könntest nach Ko-ro-ba ziehen«, sagte ich. »Mein Vater und Tarl sind ausgezeichnete Schwertkämpfer.«
»Und was täte ich in deiner Heimatstadt?« fragte das Mädchen. »Ich dachte ständig nur an dich. Für wie stark hältst du mich, Cabot? Nein, ich kehre nach Treve zurück. Ich werde als Ärztin arbeiten. Ich habe von meinem Vater viel gelernt.«
»In Treve wirst du von der Kaste der Wissenden verfolgt. Zieh lieber nach Ar, wo wir dich gut unterbringen können.«
»Ja, Cabot«, sagte sie. »Du hast recht. Ich lasse dich auch nur gehen, weil ich dich so liebe. Nur deshalb kämpfe ich nicht um dich.«
»Ich weiß«, sagte ich und drückte sie an mich.
Sie lachte. »Wenn ich dich ein wenig weniger liebte, würde ich mich selbst auf die Suche nach Talena machen und ihr einen Dolch ins Herz stoßen.«
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