»Und dann habe ich seinen Kuß tatsächlich erwidert«, sagte Selene nachdenklich.
»Oh, wirklich?« Barron Nevilles Stimme klang barsch. »Also, das nenne ich Pflichterfüllung!«
»Ich weiß nicht. So schlimm war es gar nicht. Eigentlich« — und sie lächelte — »war er ganz nett dabei. Er hatte Angst, sich ungeschickt anzustellen, und hielt zuerst seine Arme auf dem Rücken versteckt; er wollte mich wohl nicht erdrücken.«
»Komm, erspar mir die Einzelheiten.«
»Was macht dir das schon aus?« fauchte sie plötzlich. »Du bist doch hier der Platonische, nicht wahr?«
»Willst du’s anders? Jetzt?«
»Du brauchst nicht auf Kommando anzurücken.«
»Aber dir würde ich das raten. Wann, meinst du, wirst du uns sagen, was wir brauchen?«
»Sobald ich kann«, erwiderte sie tonlos.
»Ohne daß er es weiß?«
»Er ist nur an der Energie interessiert.«
»Und an der Rettung der Welt«, höhnte Neville, »und an seiner Heldenrolle. Er ist interessiert, es allen zu zeigen. Und dich zu küssen.«
»Daraus macht er kein Hehl. Und was hast du zu bieten?«
»Ungeduld«, rief Neville aus. »Verdammt große Ungeduld.«
»Ich bin froh«, sagte Denison langsam, »daß der Tag vorüber ist.« Er hob seinen rechten Arm und betrachtete den unförmigen Isolierstoff. »An die Lunarsonne kann und will ich mich nicht gewöhnen. Im Vergleich dazu kommt mir sogar der Raumanzug als etwas Natürliches vor.«
»Was gefällt dir an der Sonne nicht?« fragte Selene. »Sag nur nicht, daß du sie magst, Selene!«
»Nein, natürlich nicht. Ich hasse sie. Aber ich bekomme sie ja auch nie zu Gesicht. Du bist ein… Du bist die Sonne doch gewöhnt.«
»Nicht so, wie sie hier auf dem Mond ist. Hier oben strahlt sie aus schwarzem Himmel herab. Sie überblendet die Sterne, anstatt sie abzumildern. Sie ist heiß, stechend und gefährlich. Sie ist ein Feind, und wenn sie am Himmel steht, habe ich unweigerlich das Gefühl, daß unsere Versuche, die Feldintensität herabzusetzen, fehlschlagen müssen.«
»Das ist doch abergläubisch, Ben«, sagte Selene mit einem Anflug von Ungeduld. »Die Sonne hat damit nichts zu tun. Und wir waren ja ohnehin die ganze Zeit im Kraterschatten, wo es nachtschwarz war. Mit Sternen und allem, was dazugehört.«
»Nicht ganz«, widersprach Denison. »Jedesmal wenn wir nach Norden schauten, sahen wir den Streifen Sonnenlicht schimmern. Obwohl ich ungern nach Norden schaute, wurde mein Blick immer wieder dorthin gezogen. Und jedesmal, wenn ich dem Drang nachgab, spürte ich, wie das Ultraviolett meine Helmplatte ansprang.«
»Das bildest du dir nur ein. Zunächst gibt es überhaupt keine ultraviolette Strahlung in reflektiertem Licht; zweitens schützt dich dein Anzug vor jeder Strahlung.«
»Nicht aber vor Hitze. Wenigstens nicht sehr.«
»Aber nun ist der Tag vorbei.«
»Ja«, sagte Denison befriedigt, »und das gefällt mir.« Mit immer neuem Staunen sah er sich um. Am Himmel hing natürlich die Erde, an gewohnter Stelle; ein breit ausschwingender Halbbogen nun, der sich nach Südwesten wölbte. Die Konstellation Orion erhob sich darüber, ein Jäger, der aus dem schimmernd-gerundeten Stuhl der Erde aufstand. Der Horizont leuchtete im Widerschein des schwachen Lichts der Erdsichel.
»Schön ist das«, bemerkte er. Dann: »Selene, zeigt der Pionisator etwas?«
Selene, die schweigend zum Himmel aufblickte, trat an das Durcheinander von Geräten, das während der letzten drei Tag und Nachtwechsel im Kraterschatten aufgebaut worden war.
»Noch nicht«, antwortete sie, »aber das ist nur gut. Die Feldstärke hält sich bei etwas über fünfzig.«
»Das ist nicht niedrig genug.«
»Weiter können wir sie nicht senken. Ich bin sicher, daß alle Parameter stimmen.«
»Das Magnetfeld auch?« fragte er.
»Beim Magnetfeld weiß ich es nicht genau.«
»Wenn wir das verstärken, wird das Ganze instabil.«
»Das sollte es aber nicht. Ich weiß es.«
»Selene, ich baue auf deine Intuition — aber nicht, wenn die Tatsachen dagegen sprechen. Es wird instabil. Wir haben’s doch ausprobiert.«
»Ich gewiß. Ben. Aber nicht ganz mit dieser Geometrie. Es hat sich jetzt schon erstaunlich lange bei zweiundfünfzig gehalten. Wenn wir es nun stundenlang halten und nicht nur Minuten, müßten wir doch das Magnetfeld auch Minuten und nicht nur sekundenlang auf das Zehnfache verstärken können…. Versuchen wir’s.«
»Noch nicht«, erwiderte Denison.
Selene zögerte, trat zurück, wandte sich ab. »Du hast noch immer keine Sehnsucht nach der Erde, Ben?« fragte sie.
»Nein. Es ist seltsam, aber sie fehlt mir wirklich nicht. Ich hätte gedacht, daß mir der blaue Himmel, die grüne Erde, das dahinfließende Wasser abgehen würden — all die oft benutzten Adjektiv-Substantiv-Kombinationen. Sie fehlen mir nicht. Ich träume nicht einmal davon.«
»So etwas gibt es manchmal. Es gibt jedenfalls Immis, die sagen, sie hätten kein Heimweh. Sie sind natürlich in der Minderzahl, und bisher hat noch keiner herausfinden können, was diese Minderheit gemein hat. Die Vermutungen gingen von ernsthaften Emotionsstörungen — Mangel an Gefühl überhaupt — bis zum ernsthaften gefühlsmäßigen Exzeß — Angst, das Heimweh zuzugeben, damit es nicht zu einem Zusammenbruch kommt.«
»Mein Fall dürfte ganz klar liegen. Über zwei Jahrzehnte lang war mein Leben auf der Erde nicht sehr angenehm, während ich hier endlich auf einem Gebiet arbeiten kann, das ich mir angeeignet habe. Und dabei habe ich deine Hilfe… Noch mehr, Selene, ich habe deine Gesellschaft.«
»Es ist nett von dir«, sagte Selene ernst, »daß du Gesellschaft und Hilfe in eine solche Beziehung setzt. Viel Hilfe scheinst du aber nicht zu brauchen. Gibst du um meiner Gesellschaft willen vor, sie zu brauchen?«
»Ich weiß nicht, welche Antwort dir mehr schmeicheln würde.«
»Versuch’s mal mit der Wahrheit.«
»Die Wahrheit läßt sich nur schwer bestimmen, wenn ich beides so hochschätze.« Er wandte sich wieder dem Pionisator zu. »Die Feldstärke hält sich immer noch, Selene.«
Selenes Helmscheibe schimmerte im Erdlicht. »Barron meint, daß ein Mangel an Heimweh ganz natürlich ist und einen gesunden Geist verrät«, sagte sie. »Er meint, daß der menschliche Körper zwar die Oberfläche der Erde gewöhnt war und sich auf den Mond einstellen mußte, daß das beim menschlichen Gehirn aber nicht erforderlich war. Das Menschenhirn unterscheidet sich qualitativ so sehr von allen anderen Gehirnen, daß man es als ganz eigenes Phänomen ansehen kann. Es hat im Grunde keine Zeit gehabt, an die Erdoberfläche gebunden zu werden, und läßt sich daher ohne Umstellung in andere Umweltordnungen verpflanzen. Barron meint, daß das Eingeschlossensein in den Mondhöhlen vielleicht sogar die natürlichste Lebensweise ist, entspricht sie doch in größerem Maßstab dem Eingeschlossensein in der Höhlung des Schädels.«
»Glaubst du das?« fragte Denison amüsiert.
»Barron kann einem die Dinge sehr plausibel machen.«
»Es ließe sich wohl ebenso plausibel sagen, daß die Behaglichkeit der Mondhöhlen eine Erfüllung des menschlichen Dranges ist, in den Mutterleib zurückzukehren.« Nachdenklich fuhr er fort: »Angesichts des gesteuerten Klimas und der Art und Verdaulichkeit der Nahrung ließe sich tatsächlich mit einiger Berechtigung die Lunar-Kolonie — verzeih mir, Selene — Lunar-City als eine absichtliche Nachbildung der fötalen Umwelt ansehen.«
»Da dürfte dir Barron kaum zustimmen«, entgegnete Selene.
»Das glaube ich auch.« Denison schaute zur Erdsichel auf, beobachtete die fernen Wolkenbänke am Horizont. Er schwieg gedankenverloren, in den Anblick versunken. Als Selene wieder an den Pionisator trat, rührte er sich nicht.
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