Mitch zwickte sich am Nasenrücken. »Du lieber Gott«, sagte er.
Dicken runzelte heftig die Stirn. »Das ist so radikal, dass ich es nicht alles auf einmal schlucken kann.«
»Wir haben Belege für jeden einzelnen Schritt auf dem Weg«, sagte Kaye mit heiserer Stimme und nahm noch einen großen Schluck Merlot.
»Aber wie wird es vererbt? Dazu muss es in den Geschlechtszellen sein. Irgendetwas muss für Hunderte oder Tausende von Generationen von den Eltern auf die Kinder übergehen, bevor es aktiviert wird.«
»Vielleicht ist es gezippt, komprimiert in einer Art Kurzschrift«, sagte Mitch.
Kaye war verblüfft. Sie sah Mitch mit einem kleinen Schauder des Staunens an. »Das klingt so verrückt, dass es schon genial ist.
Wie überlappende Gene, nur raffinierter. Versteckt in den Sequenzwiederholungen.«
»Es muss nicht die vollständigen Anweisungen für den neuen Phänotyp enthalten …«, sagte Dicken.
»Sondern nur für die Teile, die sich verändern sollen«, fügte Kaye hinzu. »Sie wissen doch, zwischen Mensch und Schimpanse besteht im Genom nur ein Unterschied von vielleicht zwei Prozent.«
»Aber die Chromosomenzahl ist anders«, warf Mitch ein, »und das ist letztlich ein großer Unterschied.«
Dicken runzelte wieder die Stirn und fasste sich mit der Hand an den Kopf. »Du liebe Güte, das geht aber wirklich in die Tiefe.«
»Es ist zehn Uhr«, sagte Mitch und zeigte auf einen Wachmann, der mitten auf dem Weg durch die Schlucht ging und offensichtlich auf sie zukam.
Dicken warf die leeren Flaschen in einen Abfallbehälter und kam an den Tisch zurück. »Wir können es uns nicht leisten, jetzt aufzuhören. Wer weiß schon, wann wir uns wieder treffen können.«
Mitch studierte Kayes Notizen. »Jetzt wird mir klar, worum es Ihnen mit den Umweltveränderungen geht, die einzelne Menschen unter Stress setzen. Kehren wir noch einmal zu Christophers Frage zurück. Was löst das Signal, die Veränderung aus? Krankheiten? Natürliche Feinde?«
»In unserem Fall die Überbevölkerung«, sagte Kaye.
»Komplizierte gesellschaftliche Bedingungen. Konkurrenz um Arbeitsplätze«, fügte Dicken hinzu.
»Hallo, Sie da«, rief der Wachmann, als er näher kam. »Gehören Sie zu der AmericolParty?«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Dicken.
»Sie dürfen hier draußen nicht rumlaufen.«
Während sie zurückgingen, schüttelte Mitch zweifelnd den Kopf.
Er würde ihnen jetzt keine Pause gönnen — es war eine wirklich schwierige Frage. »Veränderungen spielen sich in der Regel an den Rändern einer Population ab, wo die Ressourcen knapp sind und harte Konkurrenz herrscht. Und nicht in der Mitte, wo es gemütlich zugeht.«
»Für Menschen gibt es keine ›Ränder‹, keine Grenzen mehr«, sagte Kaye. »Wir besiedeln die ganze Erde. Aber wir stehen ständig unter Stress, nur weil keiner hinter seinem Nachbarn zurückstehen will.«
»Es herrscht ständig Krieg«, sagte Dicken, plötzlich nachdenklich geworden. »Die ersten HerodesEpidemien dürfte es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben haben. Die Belastung durch eine gesellschaftliche Katastrophe, eine Gesellschaft, die entsetzlich gescheitert ist. Die Menschen müssen sich ändern, sonst …«
»Wer sagt das? Was sagt das?«, fragte Mitch und schlug sich mit der Hand auf die Hüfte.
»Unser biologischer Computer auf Speziesebene«, erwiderte Kaye.
»Da haben wir es wieder — das Computernetzwerk«, meinte Mitch zweifelnd.
»DER MÄCHTIGE HEXENMEISTER IN UNSEREN GENEN«, stimmte Kaye mit tiefer, voller Ansagestimme an. Und dann, mit erhobenem Finger: »Der Herr und Meister des Genoms.«
Mitch grinste und zeigte seinerseits mit dem Finger auf sie. »Das werden sie sagen, und dann werden sie uns auslachen und zum Teufel jagen.«
»Aus dem ganzen verdammten Zoo werden sie uns jagen«, sagte Dicken.
»Das verursacht aber Stress«, fügte Kaye affektiert hinzu. »Konzentration bitte«, beharrte Dicken. »Scheiß drauf«, erwiderte Kaye.
»Fahren wir ins Hotel und machen wir die nächste Flasche auf.«
Sie schwang die Arme und drehte eine Pirouette. Verdammt, dachte sie, ich gebe an. He Jungs, seht mich an, ich bin zu haben.
»Aber nur zur Belohnung«, sagte Dicken. »Wenn der Bus weg ist, müssen wir ein Taxi nehmen. Kaye … was stimmt denn mit dem Zentrum nicht? Was ist in der Mitte der menschlichen Population nicht in Ordnung?«
Sie ließ die Arme sinken. »Jedes Jahr immer mehr Menschen …« Dann hielt sie inne, und ihre Miene wurde hart. »Die Konkurrenz ist so stark.« Sauls Gesicht. Der böse Saul, der verliert und sich nicht damit abfindet, und der gute Saul, begeistert wie ein Kind, aber dennoch unauslöschlich gebrandmarkt: Du wirst verlieren. Es gibt stärkere, klügere Wölfe als dich. Die beiden Männer warteten auf sie.
Sie gingen in Richtung des Ausganges. Kaye wischte sich schnell über die Augen und sagte mit möglichst fester Stimme: »Früher kamen ein, oder zwei oder drei Leute auf eine großartige, welterschütternde Idee oder Erfindung.« Ihre Stimme gewann an Kraft; jetzt spürte sie Widerwillen oder sogar Wut zu Sauls Gunsten.
»Darwin und Wallace. Einstein. Heute gibt es für jede Aufgabe hundert Genies, tausend Leute, die darum kämpfen, die Festungsmauer niederzureißen. Wenn das schon in der Wissenschaft, in den höheren Sphären schlecht ist, wie ist es dann erst in den Niederungen? Endlose, boshafte Konkurrenz. Zu vieles, was man lernen muss. Zu große Bandbreite der verstopften Kommunikationskanäle. Wir können nicht schnell genug zuhören. Wir müssen uns ständig nach der Decke strecken.«
»Was ist daran anders, als wenn man gegen einen Höhlenbären oder ein Mammut kämpft?«, fragte Mitch. »Oder wenn man zusieht, wie die eigenen Kinder an Pest sterben?«
»Vielleicht führt das zu unterschiedlichen Arten von Stress, sodass unterschiedliche Signalsubstanzen betroffen sind. Wir haben es schon lange aufgegeben, neue Klauen oder Reißzähne hervorzubringen. Wir sind soziale Wesen. Alle wichtigen Veränderungen zielen auf Kommunikation und gesellschaftliche Anpassung.«
»Zu viele Veränderungen«, sagte Mitch nachdenklich. »Keiner tut es gern, aber wir müssen uns der Konkurrenz stellen, sonst sitzen wir am Ende auf der Straße.«
Sie standen vor dem Ausgang und lauschten den Grillen. Drinnen im Zoo krächzte ein Papagei. Das Geräusch war über den ganzen BaiboaPark hinweg zu hören.
»Vielfalt«, murmelte Kaye. »Übermäßiger Stress könnte ein Anzeichen für eine bevorstehende Katastrophe sein. Das zwanzigste Jahrhundert war eine einzige lange, hektische, ausgedehnte Katastrophe. Es muss eine größere Veränderung geschehen, etwas, das im Genom abgespeichert ist, muss aktiviert werden, ehe die Menschheit untergeht.«
»Also keine Krankheit, sondern eine Weiterentwicklung«, sagte Mitch.
Kaye sah ihn wieder mit dem gleichen kurzen Schaudern an.
»Genau. Jeder kann in Stunden oder höchstens Tagen überall hin reisen. Was in einer Umgebung ausgelöst wird, verbreitet sich plötzlich über die ganze Welt. Der Hexenmeister wird mit Signalen überhäuft.« Sie streckte noch einmal die Arme aus, zurückhaltender diesmal, aber alles andere als nüchtern. Sie wusste, dass Mitch sie ansah, und Dicken beobachtete sie alle beide.
Dicken ließ den Blick über die Straße neben dem großen Zooparkplatz schweifen und suchte nach einem Taxi. Er sah einen Wagen etwa dreißig Meter entfernt wenden und streckte die Hand aus. Das Taxi fuhr auf den Standstreifen.
Sie stiegen ein. Dicken setzte sich auf den Beifahrersitz. Während der Fahrt drehte er sich um und sagte: »Na gut, irgendein Abschnitt in unserer DNA baut also geduldig ein Modell für den nächsten Menschentyp. Woher bekommt er seine Ideen, seine Anregungen? Wer flüstert ›längere Beine, ein größerer Gehirnschädel, braune Augen sind dieses Jahr am besten‹? Wer sagt uns, was schön und was hässlich ist?«
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