Kaye betrachtete kurz die rosa Flamingos, die durch ihren Teich wateten. Sie bewunderte vier hundertjährige Gelbhaubenkakadus, darunter Ramses, das derzeitige Maskottchen des Zoos, der die abziehenden Massen der Tagesbesucher mit schläfriger Gleichgültigkeit betrachtete. Anschließend brachte die Führerin alle zu einem Pavillon in einem von Palmen umgebenen Hof.
Dort spielte eine mittelmäßige Band beliebte Hits aus den Vierzigerjahren, während die Besucher sich Essen auf Pappteller luden und an den Tischen Platz nahmen.
Kaye blieb an einem Büffettisch mit Obst und Gemüse stehen, nahm sich eine großzügige Portion Käse mit Cherrytomaten, Blumenkohl und eingelegten Champignons und bestellte sich an der nicht gesponserten Bar ein Glas Weißwein.
Als sie das Geld für den Wein aus dem Portemonnaie nahm, bemerkte sie aus dem Augenwinkel Christopher Dicken. Er hatte einen großen, schäbig aussehenden Mann im Schlepptau, der eine Jeansjacke und verblichene graue Jeans anhatte und eine abgeschabte Ledertasche unter dem Arm trug. Kaye holte tief Luft, verstaute das Wechselgeld und wandte sich gerade rechtzeitig um, sodass sie Dickens verschwörerischen Blick auffangen konnte. Zur Antwort legte sie den Kopf verstohlen ein wenig schief.
Kaye musste kichern, als Dicken seinen Begleiter am Ärmel zupfte. Wie zufällig schlenderten sie aus dem geschlossenen Innenhof hinaus. Der Zoo war fast leer. »Ich fühle mich richtig gemein«, sagte sie. Sie hatte immer noch ihr Weinglas in der Hand, aber es war ihr gelungen, den Teller loszuwerden. »Was glauben wir eigentlich, was wir hier tun?«
Mitchs Lächeln wirkte wenig überzeugend. Seine Augen, jungenhaft und traurig zugleich, verwirrten sie. Der kleinere, stämmige Dicken wirkte direkter und zugänglicher, und deshalb konzentrierte sie sich auf ihn. Er hatte eine Einkaufstüte dabei und zog daraus schwungvoll einen zusammengefalteten Plan des größten Zoos der Welt hervor.
»Wahrscheinlich sind wir hier, um die Menschheit zu retten«, sagte Dicken. »Da sind kleine Gemeinheiten gerechtfertigt.«
»Mist«, sagte Kaye, »ich dachte, es wäre etwas Vernünftigeres.
Ob uns hier jemand hört?«
Dicken machte eine ausladende Handbewegung in Richtung des im spanischen Stil mit Rundbögen erbauten Reptilienhauses, als schwenke er einen Zauberstab. Auf dem Zoogelände befanden sich nur noch ein paar versprengte Touristen. »Die Luft ist rein«, sagte er.
»Ich meine es ernst, Christopher«, gab Kaye zu bedenken.
»Wenn das FBI die Komodowarane verwanzt oder seine Leute in Hawaiihemden steckt, sind wir erledigt. Mehr kann ich nicht tun.«
Die Brüllaffen quittierten das Schwinden des Tageslichts mit lautem Geschrei. Mitch führte sie auf einem asphaltierten Weg durch einen tropischen Regenwald. Der Weg war von niedrigen Lampen erleuchtet, und über ihnen sprühten die Düsen der Luftbefeuchter. Die angenehme Umgebung tat ihnen allen gut, und keiner wollte den Zauber brechen.
Für Kaye schien Mitch nur aus Armen und Beinen zu bestehen.
Er war der Männertyp, der nicht in geschlossene Räume passt.
Sein Schweigen beunruhigte sie. Er drehte sich um und sah sie mit seinen ruhigen, grünen Augen an. Seine Schuhe fielen ihr auf: Wanderstiefel mit ziemlich abgenutzten dicken Profilsohlen.
Sie lächelte linkisch, und Mitch lächelte zurück.
»Ich bewege mich hier außerhalb meines Reviers«, sagte er.
»Wenn jemand hier das Gespräch beginnen sollte, dann Sie, Ms.
Lang.«
»Aber Sie sind derjenige, der die Erleuchtung hatte«, wandte Dicken ein.
»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte Mitch.
»Ich habe heute Abend nichts mehr vor«, erwiderte Kaye. »Bei Marge müssen wir erst morgen früh um acht antreten. Americol gibt ein großes Frühstück.«
Sie fuhren mit der Rolltreppe in eine Schlucht hinunter und blieben an einem Käfig mit zwei schottischen Wildkatzen stehen.
Die wie Haustiere wirkenden gestreiften Katzen wanderten herum und knurrten leise in die Dämmerung.
»Ich bin hier der seltsame Vogel«, sagte Mitch. »Von Mikrobiologie verstehe ich kaum etwas, es reicht knapp, damit ich zurecht komme. Ich bin über etwas Tolles gestolpert, und es hätte um ein Haar mein Leben ruiniert. Ich habe einen schlechten Ruf und bin bekanntermaßen exzentrisch, ein doppelter Verlierer im Wissenschaftsspiel. Wenn Sie klug sind, lassen Sie sich nicht einmal mit mir sehen.«
»Erstaunlich ehrlich«, erwiderte Dicken und hob die Hand.
»Jetzt bin ich dran. Ich habe Krankheiten um die halbe Welt verfolgt. Ich habe ein Gespür dafür, wie sie sich verbreiten, wie sie sich verhalten, wie sie funktionieren. Fast von Anfang an hatte ich den Eindruck, dass ich hinter etwas Neuem her bin. Und bis vor kurzem habe ich versucht, ein Doppelleben zu führen, zwei widersprüchliche Dinge zu glauben. Jetzt kann ich nicht mehr.«
Kaye trank ihr Weinglas in einem Zug leer. »Das klingt, als würden wir ein ZwölfPunkteProgramm abarbeiten«, sagte sie.
»Na gut. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich bin eine schüchterne kleine Wissenschaftlerin, die sich aus den ganzen schmutzigen Einzelheiten heraushalten möchte. Deshalb hänge ich mich an jemanden, der mir einen Platz zum Arbeiten gibt und mich beschützt … und jetzt ist es an der Zeit, dass ich selbstständig werde und meine eigenen Entscheidungen treffe. Zeit, erwachsen zu werden.«
»Halleluja«, rief Mitch. »Nur zu, Schwester«, fügte Dicken hinzu. Sie blickte auf und wollte wütend werden, aber die beiden lächelten sie genau auf die richtige Weise an, und zum ersten Mal seit vielen Monaten — seit den letzten schönen Zeiten mit Saul — hatte sie das Gefühl, unter Freunden zu sein.
Dicken griff in die Einkaufstüte und brachte eine Flasche Merlot zum Vorschein. »Die Zoowächter könnten uns einsperren«, sagte er, »aber das hier ist noch unsere geringste Sünde. Manches, was gesagt werden muss, bringen wir vielleicht nur richtig betrunken heraus.«
»Ich nehme an, Sie beide haben Ihre Gedanken schon ausgetauscht«, sagte Mitch zu Kaye, während Dicken den Wein einschenkte. »Ich habe so viel wie irgend möglich gelesen, um fit zu sein, aber ich liege immer noch weit zurück.«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Kaye. Jetzt, wo sie ein wenig lockerer waren, wühlte die Art, wie Mitch Rafelson sie ansah — direkt, ehrlich, prüfend, ohne dass es besonders auffiel —, in ihr etwas auf, das sie fast für abgestorben gehalten hatte.
»Erzählen Sie doch erst mal, wie Sie sich kennen gelernt haben«, schlug Mitch vor.
»In Georgien«, sagte Kaye.
»Dem Geburtsort des Weines«, fügte Dicken hinzu.
»Wir haben ein Massengrab besichtigt«, sagte Kaye. »Allerdings nicht gemeinsam. Schwangere Frauen und ihre Ehemänner.«
»Kindstötung«, sagte Mitch, und sein Blick verlor plötzlich an Schärfe. »Warum?«
Sie setzten sich an einen Kunststofftisch neben einem geschlossenen Erfrischungsstand tief im Schatten der Schlucht. Im Gebüsch neben dem Asphaltweg hackten rote und braune Hühner.
Eine Raubkatze fletschte in ihrem Käfig die Zähne und knurrte, sodass das Echo schaurig widerhallte.
Mitch holte einen Aktendeckel aus seiner Ledertasche und legte die Papiere ordentlich auf den Kunststofftisch. »Hier fließt alles zusammen.« Er legte eine Hand auf die beiden Blätter zu seiner Rechten. »Das sind die Analysen der University of Washington.
Wendell Packer hat mir erlaubt, sie Ihnen zu zeigen. Aber wenn jemand es ausposaunt, sitzen wir alle ganz schön im Schlamassel.«
»Was für Analysen?«, fragte Kaye.
»Die Genetik der Mumien von Innsbruck. Zwei Sätze von Befunden über die Gewebeproben, aus zwei verschiedenen Labors an der University of Washington. Ich habe Wendell Packer Proben von den beiden Erwachsenen gegeben. Und wie sich dann herausstellte, hatten die Leute in Innsbruck schon Proben an Maria Konig in demselben Institut geschickt. Wendell konnte die Ergebnisse vergleichen.«
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