Aber die Menschen auf dem Bild wissen das nicht. Diese toten Männer und Frauen haben keine Ahnung, dass sie vor den Schätzen vergangener Zeitalter stehen, dass sie im Eden der grahamitischen Bibel leben, wohin arme Seelen gehen, um ihren Platz an der Seite Gottes einzunehmen. Wo alle Aromen der Welt unter dem wachsamen Auge von Noah und dem heiligen Franziskus weilen und wo niemand verhungert.
Anderson überfliegt die Bildunterschrift. Der fette, selbstzufriedene Narr hat keine Ahnung, neben was für einer genetischen Goldmine er da steht. Das Buch identifiziert die Ngaw nicht einmal! Sie ist nur ein weiteres Beispiel für die Fruchtbarkeit der Natur und wird für völlig selbstverständlich genommen, weil es davon so verdammt viel gab.
Für einen kurzen Moment wünscht sich Anderson, er könnte den fetten Farang und den uralten Thaibauern aus der Fotografie heraus und in die Gegenwart zerren, um seiner Wut unmittelbar Ausdruck zu verleihen, bevor er sie vom Balkon wirft. So, wie sie ganz zweifellos Früchte weggeworfen haben, die auch nur im Mindesten angestoßen waren.
Er blättert weiter, findet jedoch kein weiteres Bild und auch keine Auflistung der erhältlichen Sorten. Erregt richtet er sich auf und geht wieder zum Balkon hinüber. Tritt in die Glut der Sonne hinaus und blickt auf die Stadt hinunter. Die Rufe der Wasserverkäufer und das Gebrüll der Megodonten hallen zu ihm herauf. Das Läuten der Fahrradklingeln strömt durch die Straßen. Bis Mittag wird sich die Stadt weitgehend beruhigt haben, während alles auf den Sonnenuntergang wartet.
Irgendwo in der Stadt spielt ein Genfledderer emsig mit den Bausteinen des Lebens. Rekonstruiert längst ausgestorbene DNA, um sie den Verhältnissen seit der Kontraktion anzupassen, damit sie trotz Rostwelke, japanischer Gentech-Rüsselkäfern und Cibiskose bestehen kann.
Gi Bu Sen. Über den Namen war sich das Aufziehmädchen sicher. Das muss Gibbons sein.
Anderson stützt sich auf das Balkongeländer und späht in die Hitze auf das Gewirr der Stadt hinaus. Gibbons ist irgendwo dort draußen. Arbeitet an seinem nächsten Triumph. Und wo immer er sich versteckt, wird sich in der Nähe eine Samenbank befinden.
Das Problem mit Geld, das man auf der Bank hat, ist, dass es sich von einem Augenblick zum nächsten gegen einen wenden wird: Was dir gehörte, gehört plötzlich anderen, wofür du gearbeitet und geschwitzt und Anteile deiner Lebenszeit verkauft hast, gehört plötzlich einem Fremden. Dieses Problem — das Bankenproblem — nagt an Hock Seng wie ein genmanipulierter Rüsselkäfer, den er weder herausziehen noch zu Eiter und Panzerfragmenten zerquetschen kann.
Unter dem Aspekt der Zeit betrachtet — Zeit, in der man einen Lohn verdient, der dann auf die Bank gebracht wird —, kann ein Mensch zu mehr als der Hälfte einer Bank gehören. Nun ja, wenigstens zu einem Drittel, selbst wenn man ein fauler Thai ist. Und ein Mensch, dem ein Drittel seines Lebens abhandengekommen ist, hat im eigentlichen Sinne kein Leben mehr.
Welches Drittel kann ein Mensch verlieren? Das Drittel von der Brust bis zu seiner kahl werdenden Schädeldecke? Von seiner Taille bis zu seinen gelblichen Zehnägeln? Zwei Beine und ein Arm? Zwei Arme und ein Kopf? Ein Mensch mag es vielleicht überleben, wenn ihm ein Viertel abgeschnitten wird, aber ein Drittel ist zu viel, das kann man nicht hinnehmen.
Das ist das Problem mit den Banken. Sobald man ihnen Geld ins Maul steckt, stellt man fest, dass der Tiger seine Zähne um deinen Kopf geschlossen hat. Ein Drittel oder eine Hälfte oder nur ein mit Leberflecken übersäter Schädel — ebenso gut könnte es alles sein.
Aber wenn man den Banken nicht vertrauen kann, wem dann? Einem zerbrechlichen Schloss an der Tür? Dem Drillich einer Matratze? Einer kaputten Dachschindel, vorsichtig hochgehoben und das Geld in Bananenblätter gewickelt? Einem Bambusbalken in einer Slumhütte, mit viel Geschick aufgesägt und ausgehöhlt, um die fetten Geldscheinrollen aufzunehmen?
Hock Seng macht sich an dem Bambus zu schaffen.
Der Mann, der ihm das Zimmer vermietete, hat es »ein Apartment« genannt, und in gewisser Hinsicht ist es das auch. Der Raum ist nicht nur durch Kokosnusspolymerplanen abgetrennt, sondern hat vier Wände. Dahinter liegt ein kleiner Innenhof mit dem Klohäuschen, das er sich — ebenso wie die Wände — mit sechs anderen Hütten teilt. Für einen Yellow-Card-Flüchtling ist das kein Apartment, sondern eine Villa. Und doch hört er überall um sich herum das Jammern und Stöhnen der dicht gedrängt lebenden Menschen.
Die WeatherAll-Holzwände sind, das muss er zugeben, ein Luxus, selbst wenn sie nicht ganz den Boden berühren, selbst wenn die Sandalen seiner Nachbarn darunter hindurchlugen und selbst wenn sie nach dem Öl stinken, mit dem sie behandelt sind, damit sie in der Feuchtigkeit der Tropen nicht verrotten. Aber sie sind notwendig, und wenn auch nur, damit er einen Ort hat, wo er sein Geld aufbewahren kann — außer auf dem Boden seines Regenfasses, in drei Lagen Hundefell gewickelt, von dem er betet, dass es nach sechs Monaten noch immer wasserdicht ist.
Hock Seng hält in seiner Arbeit inne und horcht.
Aus dem Zimmer nebenan dringt ein Rascheln herüber, aber nichts weist darauf hin, dass jemand sein mäuseartiges Wühlen belauscht. Er macht sich wieder daran, ein verkleidetes Bambuspaneel aus dem Balken zu lösen, wobei er darauf achtet, das Sägemehl für später aufzubewahren.
Nichts ist gewiss — das ist die erste Lektion. Die fremden Teufel haben das im Laufe der Kontraktion erfahren müssen, als der Ölmangel sie zwang, an ihre eigenen Küsten zurückzukehren. Er selbst hat das in Malakka gelernt. Nichts ist gewiss, nichts ist sicher. Aus einem reichen Mann wird ein armer Mann. Aus einem lärmenden chinesischen Clan, der fett und glücklich das Frühlingsfest feiert und sich den Bauch mit Nasi Goreng und Huhn nach Hainan-Art vollgeschlagen hat, wird ein einziger ausgemergelter Yellow Card. Nichts ist ewig. Wenigstens darüber sind sich die Buddhisten im Klaren.
Hock Seng grinst humorlos und fährt mit seiner lautlosen Grabearbeit fort. Er folgt einer Linie, die am oberen Rand der Vertäfelung entlangführt, kratzt noch mehr festgedrücktes Sägemehl heraus. Er lebt jetzt in Saus und Braus, mit seinem geflickten Moskitonetz und seinem kleinen Brenner, auf dem er zweimal am Tag grünes Methan entzündet, wenn er denn bereit ist, den hiesigen älteren Bruder dafür zu bezahlen, so dass dieser ihm etwas aus den städtischen Gasleitungen abzweigt. Er hat seinen eigenen Satz Regenurnen aus Ton in dem winzigen Innenhof aufgestellt, der an sich schon ein erstaunlicher Luxus ist, und so stehen sie unter dem Schutz der Ehre und der Rechtschaffenheit seiner Nachbarn — bitterarmen Menschen, die wissen, dass alles — jedes Leid und jede Verkommenheit — seine Grenzen haben muss. Und so besitzt er Regenfässer voller Moskitoeier, die in dem grünen Schleim gedeihen, und kann sich sicher sein, dass niemand je daraus etwas stehlen wird, selbst wenn er direkt vor seiner Tür ermordet werden oder die Frau nebenan jedem Nak Leng zum Opfer fallen könnte, der sie vergewaltigen will. Hock Seng zieht an dem winzigen Paneel in der Bambusstrebe und hält die Luft an, um ja kein Geräusch zu machen. Er hat sich für dieses Zimmer wegen der freiliegenden Balken und der Ziegel an der niedrigen, dunklen Decke entschieden. Wegen der vielen Ecken und Winkel und Möglichkeiten. Überall um ihn herum wachen die Slumbewohner auf, jammern und stöhnen und zünden ihre Zigaretten an, während er, vor Anspannung schwitzend, sein Versteck öffnet. Es ist töricht, hier so viel Geld aufzubewahren. Was ist, wenn ein Brand ausbricht? Wenn das WeatherAll Feuer fängt, weil irgendein Narr eine Kerze umwirft? Was ist, wenn der Mob kommt und er hier drin in der Falle sitzt?
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