»Gleich wird man dir zu trinken geben«, sagte Ellon.
Während Mizar Wasser schleckte, bereitete Ellon den Transformator für eine neue Zeitreise vor. Ich fragte den Demiurgen, ob man den Flug in die Vergangenheit nicht auf morgen verschieben könne, damit Mizar sich ausruhe. Er entgegnete, nicht nur die Zeit dieser Minute, sondern auch die vergangene warte nicht. Ich umarmte Mizar erneut und erkundigte mich, ob Irina ihm über das Experimentprogramm alles gesagt habe. Der Hund lächelte. Jedermann weiß, daß Hunde nicht allein mit dem Schwanz vortrefflich lächeln, sondern auch mit den Augen und mit dem Maul, und Mizars verhaltenes Lächeln war besonders anmutig. Ja, er lächelte, selbst in Augenblicken höchster Freude erlaubte er sich kein vulgäres Gelächter.
So sind übrigens viele Hunde. Das Feingefühl liegt ihnen im Blut.
»Ich bin soweit, Eli. Zunächst schicke ich ihn in die Zukunft, durch die Zukunft dann in die Vergangenheit, und in der Vergangenheit werden die Erde und Wald sein. Wo ist Irina?«
»Sie ist unpäßlich. Der Erfolg deines Experiments ist die Medizin, die sie am dringendsten braucht.«
»Ich werde alles Erforderliche tun.«
Und zum dritten Mal sahen wir, wie sich Mizars großer schöner Körper in eine Nebelsilhouette verwandelte, wie in der Leere noch kurz die beiden Augen leuchteten und die rote Zunge für den schon unsichtbaren Körper Kühle hechelte. Im Laboratorium erschien wieder Oleg. Irina war bewußtlos, an ihrem Bett wachte Olga. Oleg fürchtete um ihr Leben. Die Menschen und die Demiurgen hatten das Geschwader mit den besten Arzneien versorgt, darunter auch solche gegen Gemütskrankheiten, aber kein einziges wirkte. Der Medizinautomat hatte dreimal unterschiedliche Diagnosen gestellt und unterschiedliche Behandlung festgelegt, in seinem Gedächtnis fanden sich keine Kenntnisse über Irinas Krankheit, so ungewöhnlich war sie.
Ellons schrille Stimme erklang: »Achtung! Rückkehr aus der Zukunft. Trägheitsflug in die Vergangenheit!«
Mizar kam aus der Zukunft, und er wurde in der Gegenwart nicht abgebremst. Äußerlich spielte sich das so ab, daß sich im Transformator in derselben Reihenfolge die mühsam pulsierende Zunge, die beiden Augen, der Rumpf und die Beine abhoben. Sekundenlang erwartete ich, daß der Hund seine Gestalt wiedergewinnen würde und freudig bellend hinausgelassen zu werden verlange. Aber der Rumpf hellte sich, ehe er völlig körperlich geworden war, wieder auf, wurde beinahe durchsichtig und verschwand. Mizar sauste ohne Aufenthalt in der Gegenwart in die Vergangenheit. Ellon beobachtete, über den Kollapsan gebeugt, die an der Schalttafel aufflammenden Lichter.
»Der Versuchshund Mizar ist in die Vergangenheit enteilt«, sagte er und trat zu Oleg. »Die Nullzeit hat er unversehrt passiert. Ich habe der Trägheit seines Flugs aus der Zukunft ein wenig Gegenzeit beigemengt.«
»Wie lange müssen wir auf Mizars Rückkehr warten, Ellon?« »Ungefähr eine Stunde, Oberkommandierender.«
Ich sagte zu Oleg: »Wenn du hierbleibst, statte ich der Stimme einen Besuch ab. Sicherlich langweilt sie sich in der Einsamkeit.«
Im Raum der Stimme schritt ich an der Wand entlang, wie Grazi das zu tun liebte. Die Analysatoren übermittelten ihr ein vollständigeres Bild des Experiments, als sie es von mir hätte erhalten können. Sie fragte mich nur, was ich zu den Flügen in eine andere Zeit meinte. Ich war von vagen Empfindungen erfüllt – Hoffnung, vermischt mit Furcht, und etwas, das sich als instinktive Feindseligkeit gegenüber solcherart Versuche mit einem Lebewesen charakterisieren ließe.
»Die Lage ist wahrscheinlich ernster, als wir vermuten«, sagte die Stimme.
»Fürchtest du wie Romero, daß uns Wahnsinn droht?«
»Der Wahnsinn hat schon angefangen.«
»Außer Irinas hat sich niemandes Bewußtsein getrübt. Abgesehen von den Maschinen, selbstverständlich. Die sind ja sofort verrückt geworden.«
»Der Maschinenintellekt ist nicht wie die Organismen durch einen Zeitstabilisator geschützt. So mußten sie eher Schaden nehmen.«
»Du stimmst auch dieser Hypothese Romeros zu?«
»Romero hat die Ursache treffend genannt.«
»Sollen tatsächlich du und auch ich den Verstand verlieren, Stimme? Bei der ersten Havarie büßtest du das Gefühl für das Jetzt‘ ein. Aber jetzt sind wir alle im Jetzt’. Das wirst du nicht bestreiten?«
Gerade dies bestritt sie. Sie sagte, daß wir bereits die Diesminütigkeit verloren hätten, genauer: Die Diesaugenblicklichkeit. Die Zeit auf dem Schiff pulsiere zwischen der nächsten Vergangenheit und der nächsten Zukunft. Sie fließe nicht gleichmäßig von der Vergangenheit zur Zukunft, sondern vibriere. Ein Krampf ziehe sie zusammen. Die Stimme spürte das Zittern der Zeit in jeder Gehirnzelle. Die Vibration zwischen Vergangenheit und Zukunft lasse auch die Gedanken vibrieren. Die Befehle, die sie den Vollzugsmechanismen erteile, zitterten. Die groben Vollzugsmechanismen würden zum Glück solche Feinheiten wie das Vibrieren von Gedanken, das Vibrieren eines Befehls nicht gewahr. Wahrscheinlich habe sich in der alten Menschengeschichte ein Diener auch nicht weiter darum geschert, ob sein Herr einen Befehl mit zittriger oder fester Stimme erteilte, für ihn sei der Inhalt des Befehls wichtig gewesen. Lange könne das nicht fortdauern. Der Moment werde eintreten, da der vibrierende Befehl aufhöre, ein Befehl zu sein. Dann werde auf dem Schiff alles ersterben.
»Grazi dubliert dich, doch er sagt nichts dergleichen«, erwiderte ich zweifelnd.
»Bald wird auch er es spüren. Bald werdet ihr alle es spüren, Eli. Die Zeit fiebert immer stärker. Die Vibration wird größer. Der Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft, in dem die Zeit pulsiert, rückt allmählich auseinander. Und jede Vibration hinterläßt eine Spur-Vergangenheit sammelt sich an, Zukunft konzentriert sich. Wenn die Unvereinbarkeit von Vergangenheit und Zukunft zu groß wird, reißt die Zeit erneut. Schwerlich werden wir so leichten Kaufs davonkommen wie voriges Mal. Damals brachen wir aus der zerrissenen Zeit zwischen den beiden Sonnen aus, aber was geschieht, wenn die Zeit auf dem Schiff selbst reißt?«
»Entsetzlich! Stimme, gibt es eine Chance zur Rettung?«
»Nur eine sofortige Stabilisierung der Schiffszeit.
Der Stabilisator ist jetzt wichtiger als der Transformator.«
Ich wurde ins Laboratorium gerufen. Auf dem Fußboden lag der leblose Mizar. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Zähne gefletscht, das Fell hatte sich gesträubt. Schweigend betrachteten die Anwesenden den toten Hund. Orlans drohende Stimme brach die Stille.
»Ellon, du versprachst, Mizar werde die Nullzeit wohlbehalten passieren. Du hast gelogen.«
Ellon hatte den Kopf so weit eingezogen, daß über den Schultern nur die Augen zu sehen waren, trüb und kläglich.
»Orlan, ich habe nicht gelogen. Mizar hat die Nullzeit wohlbehalten durcheilt. Wir alle haben es gesehen… Er entschwand lebend in die Vergangenheit. Alle haben es gesehen…«
»Aber tot ist er zurückgekehrt. Hast du eine Erklärung dafür, Ellon?«
Ellon sagte kaum hörbar: »Ich werde eine Erklärung suchen. Vorläufig habe ich keine.« Ellon und seine Helfer trugen Mizar zum Untersuchungstisch, und ich erzählte den Freunden von den Befürchtungen der Stimme.
»Geh lieber wieder zu ihr«, riet ich Grazi. »Womöglich verliert sie die Nerven.«
»Ich werde mit Ellon über die Zeitvibration sprechen«, sagte Orlan.
Ellon trat so niedergeschlagen heran, daß er mir leid tat.
»Die Stimme weist daraufhin, daß die Zeit auf dem Schiff zwischen Vergangenheit und Zukunft vibriert und die Amplitude sich vergrößert. Wann nimmt der Schiffszeitstabilisator die Arbeit auf, Ellon?« fragte Orlan.
»Unverzüglich werde ich mich mit ihm befassen, Orlan. Ich lasse den Transformator einstweilen ruhen und schalte den Stabilisator von der Mikrozeit auf die Schiffszeit um«, sagte Ellon rasch.
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