Jiddische Sprache, eine zerrissene halbe Seite.
Er konnte die Schrift nicht lesen. Er konnte die verblaßten hebräischen Buchstaben nicht entziffern. Er hätte sie auch nicht lesen können, wenn sie deutlich und klar gewesen wären. Aber ein Wort war deutlich. Aus der Mitte der Seite sprangen ihn die dunklen Lettern an, deutlich bis auf die kleinsten Abstriche an Kopf und Fuß der Buchstaben. Und das Wort hieß »Levko-witsch«, er wußte es, und er sagte es sich vor, indem er die zweite Silbe betonte. Lef-K-O-vitsch.
Er ließ das Papier zu Boden flattern und betrat den leeren Park. Die Bäume bewegten sich nicht, und die Blätter hingen merkwürdig herab. Gleich einer toten Last lag das Sonnenlicht drückend auf ihm und spendete keine Wärme.
Er rannte, aber seine Füße wirbelten keinen Staub auf, und ein Grasbüschel, auf das er trat, beugte sich nicht.
Und dort auf einer Bank saß ein alter Mann. Der einzige Mensch in dem verlassenen Park. Er trug eine dunkle Mütze, deren Schild seine Augen beschattete. Darunter quollen graue Haarsträhnen hervor. Der ergraute Bart reichte bis zum untersten Knopf seiner schäbigen Jacke. Die alte Hose war geflickt, und um jeden der zerrissenen, formlosen Schuhe war ein Streifen grober Leinwand gewickelt.
Marten blieb stehen. Er konnte kaum atmen. Er konnte nur ein Wort sagen, nur eine Frage stellen.
»Levkovich?«
Er stand da, während der alte Mann sich langsam erhob. Trübe braune Augen blickten aus dem faltigen Gesicht.
»Marten«, seufzte der Alte. »Samuel Marten. Du bist gekommen.« Die Worte sprachen zwei Sprachen, denn in dem Englisch hörte Marten den schwachen Klang eines ausländischen Akzents. Hinter »Samuel« schwang ein lautloser Schatten mit - »Schmuel«.
Die rauhen, geäderten Hände des alten Mannes streckten sich aus und zogen sich wieder zurück, als ob er sich vor einer Berührung fürchtete.
»Ich habe gesucht, aber da sind so viele Menschen in der Wildnis dieser aufstrebenden Stadt. So viele Martins und Mar-tiness und Mortons und Mertons. Endlich hielt ich an, als ich den grünen Park hier fand, aber nur für einen Augenblick -denn ich würde niemals die Sünde begehen, den Glauben zu verlieren. Und dann kamst du.«
»Ich bin es«, sagte Marten, und er wußte, wer der andere war. »Und du bist Phinehas Levkovich. Warum sind wir hier?«
»Ich bin Phinehas Ben Jehudah. Der Name Levkovich wurde mir durch den Ukas des Zaren zugeteilt, der die Familiennamen für alle festgesetzt hat. Und wir sind hier«, sagte der alte Mann leise, »weil ich gebetet habe. Als ich schon alt war, ging Leah, meine einzige Tochter, das Kind meiner alten Jahre, mit ihrem Gatten nach Amerika. Sie verließ die Knute des Alten in der Hoffnung auf das Neue. Und meine Söhne starben, und Sarah, die Gattin meines Herzens, war schon lange tot, und ich war allein. Und die Zeit kam, da auch ich sterben mußte. Aber ich hatte Leah nicht gesehen, seit sie in das ferne Land gegangen war, und nur selten kam ein Wort von ihr zu mir. Meine Seele sehnte sich danach, die Söhne zu sehen, die sie geboren hatte. Söhne von meinem Samen, Söhne, in denen meine Seele leben und niemals sterben mag.«
Seine Stimme klang fest, und der lautlose Schatten, der hinter seinen Worten schwebte, klang wie das ständige, unabänderliche Fließen einer altertümlichen Sprache.
»Und mein Gebet wurde erhört, und zwei Stunden wurden mir geschenkt, damit ich den ersten Sohn meines Stammes erblicken kann, der in einem neuen Land und in einer neuen Zeit geboren wurde. Sohn der Tochter der Tochter meiner Tochter, habe ich dich gefunden, mitten im gleißenden Licht dieser Stadt?«
»Aber warum hast du gesucht? Warum hast du nicht sofort zu mir gefunden?«
»Weil so viel Freude in der Hoffnung des Suchens liegt, mein Sohn«, sagte der alte Mann strahlend, »und im Entzücken des Findens. Zwei Stunden waren mir gegeben, um zu suchen, zwei Stunden, um zu finden ... Und siehe, du bist hier, und ich habe gefunden, was mir im Leben nicht zu sehen vergönnt war.« Zärtlich klang die alte Stimme. »Geht es dir gut, mein Sohn?«
»Es geht mir gut, mein Vater, nun, da ich dich gefunden habe«, sagte Marten, und er sank auf die Knie. »Gib mir deinen Segen, mein Vater, damit es mir gutgehen möge an allen Tagen meines Lebens, und auch dem Mädchen, das ich zur Gattin nehmen werde, und den Kindern, die aus meinem Samen wachsen werden und aus dem deinen.«
Er fühlte, wie die alte Hand leicht auf seiner Stirn ruhte, und nur ein lautloses Flüstern war um ihn.
Marten stand auf.
Die Augen des alten Mannes senkten sich sehnsüchtig in die seinen. Verloren sie den Fokus?
»Nun gehe ich in Frieden zu meinen Vätern, mein Sohn«, sagte der alte Mann, und Marten blieb allein im leeren Park zurück.
Bewegung flutete erneut heran, die Sonne setzte ihren unterbrochenen Weg fort, der Wind lebte auf, und im selben Augenblick kehrte alles wieder .
Um zehn Uhr vormittags rutschte Sam Marten aus dem Taxi und suchte auch nach seiner Geldbörse, während der Verkehr an ihm vorbeifloß.
Ein roter Lastwagen verlangsamte die Geschwindigkeit und fuhr dann weiter. Eine weiße Aufschrift an seiner Seite lautete: F. Lewkowitz und Söhne, Textiliengroßhandel.
Marten sah es nicht. Irgendwie wußte er, daß alles gut sein würde. Irgendwie war er sich dessen so sicher wie nie zuvor ...
Was ist es, das man Liebe nennt?
Das ist eine sehr komplizierte Geschichte. Sie geht bis auf 1938/39 zurück. Damals erschien etwa ein halbes Dutzend Nummern eines Magazins, das ich nicht nennen will. Es versuchte sich in einem Genre, das ich nicht anders als »pikante Science-Fiction-Erzählungen« bezeichnen kann. Wenn man die sexuelle Freizügigkeit in Betracht zieht, die den heutigen Autoren gestattet ist, so würden sich diese alten pikanten Geschichten heute vielleicht lesen wie etwa »Die Bobbsey-Zwillinge im Weltraum«. Aber damals konnten sie die wenigen Leser des betreffenden Magazins sehr aufregen.
Diese Geschichten beschäftigten sich sehr ernsthaft mit den heißen Leidenschaften, die irgendwelche fremde Monstren den Erdenfrauen entgegenbrachten. Stets wurden Kleider zerrissen, und Brüste wurden mit einer reichen Vielfalt von elliptischen Phrasen beschrieben. (Ja, ich weiß, das ist ein seltsames Wortspiel.) Das Magazin starb einen verdienten Tod, weniger wegen des harten Sex und Sadismus als wegen der tödlichen Einförmigkeit der Erzählungen und der unergründlichen Qualität der schriftstellerischen Werte.
Der Vorhang fiel und hob sich wieder im Jahre 1960. Das Magazin Playboy beschloß, sich ein bißchen Spaß mit Science-Fiction zu gönnen. Sie veröffentlichten einen Artikel, der sich »Die Mädchen des Schleimgotts« betitelte. Darin brachten sie zum Ausdruck, daß Science-Fiction nur aus Sex und Sadismus und sonst nichts besteht. Aber sie fanden nur wenig Stoff, den sie ironisieren konnten, denn bis 1960 gab es keinen Literaturzweig (außer vielleicht den Kindergeschichten in den Bulletins der Sonntagsschulen), der puritanischer war als Science-Fiction. Natürlich hat seit 1960 die sexuelle Liberalität auch die Science-Fiction-Literatur durchdrungen.
Also mußte Playboy seinen Artikel mit den komischen Titel-blatt-Schönheiten vergangener Science-Fiction-Magazine illustrieren, und als einzige Quelle stand die 1938/39 erschienene Zeitschrift zur Verfügung, die ich oben erwähnte.
Cele Goldsmith, die Herausgeberin von Amazing Stories, las den Artikel und rief mich sofort an. Sie schlug vor, ich solle eine Geschichte »Playboy und der Schleimgott« schreiben, eine Satire der Satire. Aus verschiedenen Gründen erschien mir das sehr verführerisch.
1) Man muß Miß Goldsmith gesehen haben, um an ihre reale Existenz zu glauben. Sie war die einzige mir bekannte Science-Fiction-Herausgeberin, die wie ein Show Girl aussah, und zufällig üben Show-Girl-Typen eine ästhetische Anziehungskraft auf mich aus (oder so etwas Ähnliches).
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