Im siebten Stock blieb der Lift lautlos stehen. Ein junger
Mann in Hemdsärmeln stieg aus. Er balancierte etwas auf den Händen, das wie eine Schreibtischschublade aussah. Darauf befanden sich drei Kaffeetassen und drei Sandwiches.
Und dann, als sich die Lifttür wieder zu schließen begann, tauchte vor Martens Augen verschwommen ein Mattglas auf, mit schwarzen Lettern. 701 - Henry J. Lefkowitz - Import. Unerbittlich entzogen die beiden Flügel der Lifttür die Schrift seinen Blicken.
Marten beugte sich aufgeregt vor. Ich will in den siebenten Stock zurück .
Aber es befanden sich noch andere Fahrgäste im Lift. Und außerdem, was sollte er im siebten Stock?
Und doch, die Erregung wich nicht von ihm. Auf der Lifttafel war der Name falsch buchstabiert gewesen. Es war kein »a«, nein, es war ein »e«. Irgendein Analphabet hatte die Schrift mit dem linken Fuß eingesetzt.
Lefkowitz. Aber das stimmt ja immer noch nicht.
Wieder schüttelte er den Kopf. Wozu mußte es auch stimmen?
Der Lift hielt im zehnten Stockwerk, und Marten stieg aus.
Alex Naylor von »Kulinetten« entpuppte sich als untersetzter Mann in mittleren Jahren, mit weißer Haarmähne, rotem Gesicht und breitem Lächeln. Seine Handflächen waren trocken und rauh, sein Händedruck bemerkenswert fest, und seine Linke, die sich treuherzig auf Martens Schulter legte, schien eine wirklich ernst gemeinte freundschaftliche Gesinnung ausdrük-ken zu wollen.
»In zwei Minuten bin ich soweit. Wollen wir gleich hier im Haus essen? Exzellentes Restaurant! Außerdem haben sie einen Barkeeper, der einen guten Martini mixen kann. Einverstanden?«
»Großartig!« Marten pumpte genau die richtige Menge Enthusiasmus aus einem Reservoir irgendwo tief in seinem Innern hoch.
Aus den zwei Minuten wurden zehn, und Marten wartete mit dem Unbehagen, das einen Mann stets zu befallen pflegt, wenn er in einem fremden Büro wartet. Er starrte auf die Polstersessel, in den kleinen Nebenraum, in dem eine junge, offensichtlich gelangweilte Telefonistin saß, er starrte die Bilder an den Wänden an, und mit halbem Herzen durchblätterte er ein Handelsmagazin, das auf einem Tischchen neben ihm lag.
Aber er dachte nicht an Lev ...
Nein, er dachte nicht daran!
Das Restaurant war angenehm, oder es wäre angenehm gewesen, wenn Marten sich nicht so unbehaglich gefühlt hätte. Glücklicherweise sah er sich von der Bürde befreit, die Konversation zu führen. Naylor sprach rasch und laut, durchlas die Speisekarte mit geübten Augen, empfahl »Eigericht Benedikt« und gab seine Meinung über das Wetter und die miserable Situation des Straßenverkehrs zum besten.
Gelegentlich versuchte Marten, in die Gegenwart zurückzukehren, seine abwesenden Gedanken zu sammeln. Aber jedesmal befiel ihn diese unerklärliche Ruhelosigkeit von neuem. Irgend etwas stimmte nicht. Der Name stimmte nicht. Und er behinderte ihn in der Erfüllung seiner Pflichten.
Aber jetzt wollte er mit aller Gewalt diesen Unsinn beenden. Plötzlich brach ein Wortschwall aus ihm hervor, und er brachte das Gespräch auf das Installationswesen. Das war natürlich unhöflich. Vor allem bestand keinerlei Veranlassung dazu. Er hatte das Thema etwas zu abrupt gewechselt.
Trotzdem, der Lunch verlief recht zufriedenstellend, das Dessert wurde aufgetragen, und Naylor antwortete freundlich.
Er gab zu, daß er mit den bestehenden Einrichtungen unzufrieden war. Ja, er hätte sich Martens Vorschläge genau angesehen, ja, es schien ihm, da wäre eine Chance, eine gute Chance, er dachte auch, daß .
Eine Hand legte sich auf Naylors Schulter, und ein Mann ging hinter seinem Stuhl vorbei.
»Wie ist der Junge, Alex?«
Naylor blickte auf, mit bereitwilligem Grinsen und aufleuchtenden Augen.
»Hey, Lefk! Was macht das Geschäft?«
»Kann nicht klagen. Wir sehen uns ...« Der Mann entfernte sich.
Marten hörte nicht mehr zu. Er fühlte, wie seine Knie zitterten, als er sich halb von seinem Stuhl erhob.
»Wer war das?« fragte er aufgeregt.
»Wer? Lefk? Jerry Lefkovitz? Kennen Sie ihn?« Naylor blickte seinen Tischgefährten mit kühler Überraschung an.
»Nein. Wie wird sein Name buchstabiert?«
»L-E-F-K-O-V-I-T-Z, glaube ich. Warum?«
»Mit V.«
»Mit F ... Oh, das ist auch ein V.« Naylors Gesicht sah nicht mehr so gutgelaunt aus.
»Da ist ein Lefkowitz im Haus. Mit W. Sie wissen doch, Lef-K-O-W-itz.«
»Oh?«
»Zimmer 701. Ist das nicht derselbe?«
»Jerry arbeitet nicht in diesem Haus. Er hat sein Büro in dem Haus auf der anderen Straßenseite. Den anderen kenne ich nicht. Das ist hier ein ziemlich großes Gebäude, und ich kann nicht jeden beobachten, der hier aus- und eingeht. Aber was soll das überhaupt?«
Marten schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. Er wußte ja selbst nicht, was das sollte. Oder wenn er es wußte, so wagte er nicht, es zu erklären. Konnte er denn sagen: Heute verfolgen mich alle Arten von Lefkowitz?
»Wir sprachen über die Installationen«, sagte er.
»Ja, nun, wie ich sagte, ich habe mir Ihre Vorschläge angesehen. Natürlich muß ich zuerst noch mit den Leuten von der Produktion sprechen. Das verstehen Sie sicher. Sie werden von mir hören.«
»Sicher«, sagte Marten unendlich deprimiert. Naylor würde nichts von sich hören lassen. Die ganze Angelegenheit war rettungslos verfahren.
Und doch, trotz seiner tiefen Niedergeschlagenheit war noch immer diese seltsame Unruhe in ihm.
Zur Hölle mit Naylor! Marten wollte nichts anderes als aufbrechen, vorankommen. (Womit vorankommen? Aber diese Frage war nur ein Flüstern. Was immer in seinem Innern diese Frage gestellt hatte, es verebbte, erstarb ...)
Qualvoll langsam näherte sich der Lunch seinem Ende. Sie hatten sich wie zwei Freunde nach langjähriger Trennung begrüßt, und jetzt gingen sie wie Fremde auseinander.
Marten fühlte einzig und allein Erleichterung.
Heftig schlug der Puls in seinen Schläfen, als er sich zwischen den Tischen hindurchzwängte, aus dem gespenstischen Haus eilte, hinaus auf die gespenstische Straße.
Gespenstisch? Madison Avenue um dreizehn Uhr zwanzig. Ein früher Nachmittag. Strahlend schien die Sonne, und Zehntausende Männer und Frauen belebten die Bürgersteige.
Aber Marten spürte, daß es spukte. Er klemmte die Aktenmappe unter den Arm und wandte sich verzweifelt nordwärts. Ein letzter Rest seines gesunden Verstands warnte ihn, daß er um fünfzehn Uhr eine Verabredung hatte. In der 36. Straße. Aber das war bedeutungslos. Er rannte die Straße hinauf. Nordwärts.
Bei der 54. Straße überquerte er die Madison Avenue und wandte sich in westliche Richtung. Abrupt blieb er stehen und blickte empor.
Ein Schild hing über dem Fenster im dritten Stockwerk. Er konnte es deutlich lesen: S. Levkowich, vereidigter Steuerprüfer.
Ein V und W. Aber das erste ICH-Ende, das er bisher gese-hen hatte. Das erste. Er kam der Sache näher. Wieder wandte er sich auf der Fifth Avenue nach Norden, rannte durch die unwirklichen Straßen einer unwirklichen Stadt, keuchte wie ein gejagtes Wild, während die Menschenmengen, die ihn umfluteten, sich in Nichts auflösten.
Ein Schild über einem ebenerdigen Fenster. M. R. Lefkowicz, praktischer Arzt.
Ein kleiner Halbkreis von goldenen Blättern über der Inschrift aus dem Schaufenster eines Süßwarenladens: Jacob Levkow.
»Ein halber Name, dachte er wütend. Warum führt er mich mit einem halben Namen in die Irre?«
Die Straßen waren leer. Nur eine mannigfaltige Sippschaft von Lefkowitz, Levkowitz, Lefkowicz stand im luftleeren Raum.
Dumpf nahm er den Park wahr, der sich in unbewegtem Grün vor ihm abzeichnete. Er wandte sich nach Westen. Aus den Augenwinkeln sah er ein Stück Zeitungspapier flattern, die einzige Bewegung in einer toten Welt. Er drehte sich um, bückte sich, hob das Papier auf, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.
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