Ein kleiner Chor von Antworten erklang, und sie fuhr fort: »Richtig. Was ist also der Unterschied zwischen einem Adjektiv und einem Adverb? Wer kann es mir sagen?«
Der Unterricht lief weiter. Zur Mittagspause gingen manche Kinder nach Hause, manche aßen in der Schule. Auch Richard blieb in der Schule. Das fiel Miß Robbins auf, weil er das normalerweise nicht tat.
Der Nachmittag verstrich, und als die Glocke den Schulschluß anzeigte, schrien und lachten die Kinder wie üblich durcheinander, fünfundzwanzig Jungen und Mädchen kramten ihre Sachen zusammen und nahmen gemächlich Aufstellung.
Miß Robbins schlug die Hände zusammen.
»Schnell, Kinder! Zelda, geh auf deinen Platz!«
»Mir ist eine Filmspule heruntergefallen«, jammerte das Mädchen.
»Dann heb sie auf. Nun, Kinder, rasch, rasch!«
Sie drückte auf einen Knopf, und eine Wand des Klassen-zimmers glitt zurück. Ein großes graues Tor erschien. Es war kein gewöhnliches Tor, wie es gewöhnliche Schüler benutzen, wenn sie zur Mittagspause nach Hause gingen. Nein, dieses Tor war ein hochmodernes Modell und der Stolz dieser teuren Privatschule.
Zusätzlich zu seiner doppelten Breite besaß das Tor einen automatischen Nummernsucher, der es möglich machte, daß man in automatischen Intervallen auf verschiedene Hausnummern einstellen konnte.
Zu Beginn des Semesters hatte Miß Robbins fast einen ganzen Nachmittag damit verbracht, die Mechanik mit den Hausnummern der neuen Schüler zu füttern. Aber danach mußte man sich, Gott sei Dank, nicht mehr darum kümmern. Alles lief wie am Schnürchen.
Die Klasse stellte sich in alphabetischer Reihenfolge auf, zuerst die Mädchen, dann die Jungen. Das Tor wurde samtig schwarz, und Hester Adams winkte und ging hindurch.
»Wiederse...«
Das Wort wurde in der Mitte abgeschnitten, wie immer. Das Tor wurde wieder grau, dann schwarz, und Theresa Cantrocchi verschwand. Grau, schwarz, Zelda Charlowicz. Grau, schwarz, Patricia Coombs. Grau, schwarz, Sara May Evans.
Die Schlange wurde kleiner, als das Tor ein Kind nach dem anderen verschluckte und nach Hause transportierte. Natürlich passierte es manchmal, daß die Eltern vergessen hatten, ihr Tor auf Empfang einzustellen, und dann blieb das Schultor grau. Nach einer Minute ging es zur nächsten Hausnummer über, und der betreffende Schüler mußte warten, bis alle Kinder transportiert worden waren. Danach brachte ein Visiphonanruf bei den vergeßlichen Eltern die Sache in Ordnung. Es war natürlich nicht sehr angenehm für einen Schüler, wenn ihm das passierte, und besonders die sensiblen Kinder litten sehr unter der Vorstellung, daß man sich zu Hause recht wenig Gedanken um sie machte. Miß Robbins führte den Eltern immer wieder eindringlich die möglichen schädlichen Folgen für die kindliche Seele vor Augen, aber es passierte trotzdem in jedem Semester mindestens einmal.
Die Mädchen waren schon alle verschwunden. John Abra-mowitz trat durch das Tor, dann Edwin Byrne ...
Natürlich bereitete es auch Schwierigkeiten, wenn ein Junge oder Mädchen die Reihenfolge durcheinanderbrachte. Sie taten es immer wieder, obwohl die Lehrerin scharf aufpaßte, besonders zu Beginn des Semesters, wenn sie sich noch nicht so an die strenge Schulordnung gewöhnt hatten.
Wenn das passierte, dann wurden die Kinder in falsche Häuser gebracht und mußten zurückgesandt werden. Es dauerte meist mehrere Minuten, bis das Durcheinander entwirrt wurde, und manche Eltern reagierten ziemlich ärgerlich auf solche Verwicklungen.
Plötzlich merkte Miß Robbins, daß die Reihe der Kinder sich nicht mehr bewegte. Sie ging auf den Jungen zu, der ganz vorn stand. »Geh doch durch, Samuel! Worauf wartest du?«
»Das ist nicht meine Nummer, Miß Robbins«, sagte Samuel Jones triumphierend.
»Nun, wessen Nummer ist das?« Ungeduldig glitt ihr Blick über die fünf Jungen, die noch übriggeblieben waren. »Wer fehlt denn?«
»Dick Hanshaw, Miß Robbins.«
»Wo ist er?«
Ein anderer Junge antwortete im selbstgerechten Tonfall, den Kinder immer annehmen, wenn sie einer Autoritätsperson von den Missetaten ihrer Freunde berichten.
»Er ist durch den Notausgang gegangen, Miß Robbins.«
»Was?«
Das Klassentor war zu einer anderen Nummer übergegangen, und Samuel Jones ging hindurch. Die anderen folgten ihm.
Miß Robbins stand allein im Klassenzimmer. Sie ging zum Notausgang. Es war eine ganz kleine Tür mit Handbetrieb. Sie war in einer Mauernische verborgen, so daß sie die einheitliche Gestaltung des Raumes nicht störte. Sie öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Sie war eingebaut worden, um die Kinder bei Feuergefahr aus dem Klassenzimmer zu lassen, ein Anachronismus, der einem antiquierten Gesetz zuzuschreiben war, einem Gesetz, das den modernen automatischen Feuerlöschmethoden, über die alle öffentlichen Gebäude verfügten, keine Rechnung trug. Da war nichts draußen - nur »draußen«. Das Sonnenlicht brannte, und ein scharfer Wind blies.
Miß Robbins schloß die Tür. Sie war froh, daß sie Mrs. Hanshaw angerufen hatte. Sie hatte ihre Pflicht getan. Jetzt war es offensichtlicher denn je, daß irgend etwas mit Richard nicht stimmte. Sie unterdrückte den Impuls, seine Mutter noch einmal anzurufen.
Mrs. Hanshaw besuchte an diesem Tag doch nicht New York. Sie blieb zu Hause und überließ sich ihren halb ängstlichen, halb ärgerlichen Gedanken. Ihr Ärger richtete sich hauptsächlich gegen die unverschämte Miß Robbins.
Fünfzehn Minuten vor Schulende trieb sie ihre Angst zum Tor. Im letzten Jahr hatte sie eine automatische Vorrichtung einbauen lassen, die es täglich um fünf Minuten vor drei auf die Nummer des Klassentors einstellte. Das Tor behielt diese Einstellung bei und sperrte sich gegen jede manuelle Betätigung, bis Richard eintraf.
Ihr Blick heftete sich auf das trübe Grau des Tores, und sie wartete. Ihre Finger schlangen sich ineinander.
Das Tor wurde genau zur richtigen Zeit schwarz, aber nichts geschah. Die Minuten verstrichen, und Richard erschien nicht.
Eine Viertelstunde vor vier war sie außer sich vor Angst. Normalerweise hätte sie die Schule angerufen, aber sie konnte es nicht, nicht heute, nicht, nachdem diese Lehrerin so deutliche Zweifel an Richards geistiger Gesundheit geäußert hatte.
Mrs. Hanshaw ging unruhig auf und ab, zündete sich mit zit-ternden Fingern eine Zigarette an und drückte sie wieder aus. Vielleicht war gar nichts Besonderes vorgefallen. Vielleicht blieb Richard aus irgendeinem Grund länger in der Schule. Aber das hätte er ihr doch vorher gesagt. Dann kam ihr ein Gedanke. Er wußte doch, daß sie geplant hatte, New York zu besuchen und erst spät abends zurückzukehren .
Nein, sicher hätte er es ihr gesagt. Warum sollte sie sich in falschen Hoffnungen wiegen?
Langsam zerbröckelte ihr Stolz. Sie mußte die Schule anrufen oder sogar (sie schloß die Augen, und Tränen quollen zwischen ihren Wimpern hervor) die Polizei.
Als sie die Augen öffnete, stand Richard vor ihr. Er hielt den Blick gesenkt, und seine ganze Haltung drückte aus, daß er ein Donnerwetter erwartete.
»Hallo, Mammy.«
Mrs. Hanshaws Angst verwandelte sich augenblicklich in Zorn.
»Wo bist du gewesen, Richard?«
Und dann, bevor sie sich weiter über gedankenlose Söhne verbreiten konnte, die die Herzen ihrer Mütter brachen, bemerkte sie gewisse Veränderungen in seiner äußeren Erscheinung, und vor Schreck stockte ihr beinahe der Atem.
»Du warst im Freien!«
Ihr Sohn blickte auf seine staubigen Schuhe herab. Die Schmutzabweiser waren verschwunden. Er blickte auf die Schmutzstreifen an seinen Ärmeln, auf den kleinen Riß in seinem Hemd.
»Ach, Mammy, ich habe nur gedacht, ich .« Er verstummte.
»War irgend etwas mit dem Klassentor nicht in Ordnung?«
»Mit dem Klassentor war alles in Ordnung, Mammy.«
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