Über Antimaterie machte man keine Witze, jedenfalls hatte Sky das noch nie erlebt.
»Schön«, sagte sein Vater. »Jetzt setz dich wieder auf deinen Platz und leg deinen Gurt an.«
Als er angeschnallt war, gab Titus maximalen Schub, und das Taxi schoss davon. Die Santiago schrumpfte zu einem dünnen grauen Splitter, und schließlich musste man das Sternenfeld schon sehr sorgfältig absuchen, um sie überhaupt noch zu finden. Vor dem Hintergrund der scheinbar unbeweglichen Sterne wollte man kaum glauben, dass sich das Schiff überhaupt bewegte. Tatsächlich flog es mit acht Hundertstel Lichtgeschwindigkeit, schneller als je ein bemanntes Raumschiff zuvor, aber bei den ungeheuren Entfernungen im interstellaren Raum dennoch kaum der Rede wert.
Deshalb wurden die Passagiere tiefgefroren, damit sie den langen Flug verschlafen konnten, während drei Mannschaftsgenerationen fast ihr ganzes Leben damit zubrachten, sie zu betreuen. Von der Besatzung wurden die reglosen Gestalten in ihren Kälteschlaftanks scherzhaft als ›Mumien‹ oder auf Castellano, das für private Gespräche immer noch in Gebrauch war, als Momios bezeichnet.
Sky Haussmann gehörte zur Besatzung. Jeder, den er kannte, gehörte zur Besatzung.
»Kannst du die anderen Schiffe schon sehen?«, fragte sein Vater.
Sky spähte so lange durch das vordere Sichtfenster, bis er eines davon entdeckte. Es war nicht leicht zu finden, aber offenbar hatten sich seine Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Oder hatte er es sich doch nur eingebildet?
Nein — da war es wieder, ein eigenes, winzig kleines Sternbild.
»Da ist eins.« Sky deutete mit dem Finger darauf.
Sein Vater nickte. »Das müsste die Brasilia sein. Die Palästina und die Bagdad sind ebenfalls da draußen, aber sehr viel weiter entfernt.«
»Kannst du sie sehen?«
»Nicht mit bloßem Auge.« Titus Hände glitten im Dunkeln über die Schaltelemente des Taxis. Farbige Kästchen erschienen auf dem Fenster wie Kreidestriche vor der Schwärze des Alls. Sie umrahmten die Brasilia und die weiter entfernten Schiffe, aber erst als die Brasilia schon nicht mehr zu übersehen war, konnte Sky die beiden anderen als dünne Splitter ausmachen. Die Brasilia war, wie er feststellte, von gleicher Bauart war wie sein Heimatschiff, sogar die Scheiben rings um die Säule waren identisch.
Er suchte auf dem Taxifenster nach einem bunten Rahmen für das vierte Schiff, aber er fand nichts.
»Ist die Islamabad hinter uns?«, fragte er seinen Vater.
»Nein«, antwortete Titus leise. »Sie ist nicht hinter uns.«
Er sprach in einem Tonfall, der Sky beunruhigte. Aber im Inneren des Taxis war es so dunkel, dass er Titus’ Gesicht nicht sehen konnte. Vielleicht war das beabsichtigt.
»Wo ist sie dann?«
»Sie ist nicht mehr da.« Sein Vater sprach sehr langsam. »Sie ist schon seit längerem nicht mehr da, Sky. Wir haben nur noch vier Schiffe. Der Islamabad ist vor sieben Jahren ein Unglück zugestoßen.«
Die Stille dauerte eine Ewigkeit, bis Sky sich schließlich die entscheidende Frage abringen konnte.
»Was ist passiert?«
»Eine Explosion. Eine Explosion, wie du sie dir nicht vorstellen kannst.« Sein Vater hielt kurz inne. »Für einen winzigen Augenblick war es, als erstrahlten Million von Sonnen. Zwinkere einmal mit den Lidern, Sky — und stell dir vor, dass in dieser Zeit tausend Menschen zu Asche verbrennen.«
Sky dachte an den Blitz in seinem Kinderzimmer zurück.
Drei Jahre war er damals alt gewesen. Das Licht hätte ihn sicher mehr erschreckt, hätte Clowns seltsamer Zusammenbruch am gleichen Tag nicht alles andere überschattet. Obwohl er es nie ganz vergaß, wenn er an das Ereignis dachte, war das Wichtigste doch immer noch die grenzenlose Enttäuschung über den Gefährten seiner Kindheit, die Erkenntnis, dass Clown nur ein Trugbild aus flimmernden Punkten gewesen war. Wie hätte ihn der kurze, helle Blitz mehr erschüttern können als diese Katastrophe?
»Hat jemand die Explosion herbeigeführt?«
»Nein, das glaube ich nicht. Jedenfalls nicht mit Absicht. Aber es könnte ein Experiment gewesen sein.«
»Mit den Triebwerken?«
»Manchmal denke ich mir, dass es so gewesen sein muss.« Jetzt sprach sein Vater fast verschwörerisch leise. »Unsere Schiffe sind sehr alt, Sky. Ich wurde genau wie du an Bord geboren. Mein Vater war ein junger Mann, noch kaum erwachsen, als er mit der ersten Generation den Merkur-Orbit verließ. Das war vor hundert Jahren.«
»Aber das Schiff nützt sich doch nicht ab«, sagte Sky.
»Nein«. Titus nickte mit Nachdruck. »Unsere Schiffe sind noch fast so gut wie an dem Tag, an dem sie gebaut wurden. Das Problem ist nur, sie werden nicht besser. Damals gab es auf der Erde noch Menschen, die auf unserer Seite standen und uns auch während der Reise unterstützen wollten. Sie hatten im Lauf der Jahre viel über die Konstruktion unserer Schiffe nachgedacht und immer wieder überlegt, wie sie uns mit kleinen Dingen das Leben erleichtern könnten. Sie schickten uns ihre Vorschläge: Verbesserungen an den lebenserhaltenden Systemen; Modifikationen für die Kälteschlafkojen. Wir hatten in den ersten Jahrzehnten Dutzende von Schläfern verloren, Sky — aber mit den neuen Einstellungen bekamen wir das Problem allmählich in den Griff.«
Auch das war Sky neu: die Vorstellung, dass einige von den Schläfern nicht mehr am Leben sein sollten, wollte ihm zunächst nicht in den Kopf. Schließlich war auch der Kälteschlaf so etwas wie der Tod. Doch sein Vater erklärte ihm, dass den Schläfern allerhand zustoßen konnte, was ein erfolgreiches Auftauen verhinderte.
»Aber in letzter Zeit… jedenfalls seit deiner Geburt — ist alles sehr viel besser geworden. In den vergangenen zehn Jahren hatten wir nur zwei Todesfälle.« Später sollte Sky sich fragen, was man mit diesen Toten gemacht hatte; ob sie etwa immer noch im Schiff waren. Die Erwachsenen hingen an den Momios wie eine religiöse Sekte an einem seltenen und sehr empfindlichen Heiligenbild. »Aber es gab noch einen Verbesserungsvorschlag«, fuhr sein Vater fort.
»Die Triebwerke?«
»Ja.« Tiefer Stolz klang aus Titus’ Stimme. »Die Triebwerke sind derzeit abgeschaltet und werden erst kurz vor dem Ziel wieder gezündet — aber wenn es eine Möglichkeit gäbe, ihre Leistung zu verbessern, könnten wir, wenn wir Journey’s End erreichen, schneller abbremsen. Wie die Dinge jetzt liegen, müssten wir das Bremsmanöver einleiten, wenn wir vom Schwan noch Jahre entfernt sind — doch bei besserer Triebwerksleistung könnten wir länger mit Reisegeschwindigkeit fliegen und kämen eher ans Ziel. Schon eine kleine Steigerung — eine Zeitersparnis von wenigen Jahren — wäre ein Erfolg, besonders, wenn wir weitere Schläfer verlieren sollten.«
»Wird es dazu kommen?«
»Das werden wir erst sehr viel später erfahren. In fünfzig Jahren, wenn wir unserem Ziel schon sehr nahe sind, werden die Geräte, mit denen die Schläfer im Kälteschlaf gehalten werden, sehr alt geworden sein. Sie gehören zu den wenigen Systemen, die wir nicht laufend reparieren und modernisieren können — zu kompliziert und zu gefährlich. Jede Verkürzung der Flugzeit wäre also ein Gewinn. Denk an meine Worte — in fünfzig Jahren wirst du um jeden Monat kämpfen, den du von der Reisezeit abknapsen kannst.«
»Haben die Leute zu Hause denn einen Weg gefunden, um die Leistung der Triebwerke zu steigern?«
»Genau so war es.« Sein Vater freute sich, dass er das erraten hatte. »Natürlich hatten alle Schiffe der Flottille die entsprechenden Anweisungen erhalten, und wir waren auch in der Lage, die empfohlenen Umbauten vorzunehmen. Doch zunächst zögerten wir noch. Man rief alle Captains zu einem Spitzengespräch zusammen. Balcazar und drei von den vier anderen hielten den Plan für gefährlich. Sie mahnten zur Vorsicht — wiesen darauf hin, dass wir noch vierzig oder fünfzig Jahre Zeit hätten, um den Vorschlag zu studieren, bevor wir eine Entscheidung treffen müssten. Angenommen, die Erde hätte in ihrem Entwurf einen Fehler entdeckt? Womöglich war eine entsprechende Warnung bereits unterwegs — eine dringende Botschaft, die ›Halt!‹, schrie — vielleicht hatten die Konstrukteure in ein oder zwei Jahren auch noch eine bessere Idee, die sich aber jetzt nicht realisieren ließ. Angenommen, wir folgten dem ersten Vorschlag und verbauten uns damit die Möglichkeit, den zweiten auszuführen?«
Читать дальше