„Ich kann den Alien immer noch nicht orten“, berichtete Prilicla, der sowohl wegen seiner eigenen als auch aufgrund Cha Thrats Enttäuschung heftig zitterte. „Es gibt noch zu viele Störungen von den Überlebenden, die bei Bewußtsein sind. Alles, was wir jetzt tun können, ist, auf die Rhabwar zurückzukehren und zu versuchen, Freundin Murchison zu helfen. Ihre Schützlinge werden für eine Weile keinen Hunger haben. Kommen Sie?“
„Nein“, entgegnete Cha Thrat. „Ich würde lieber die normale, physikalische Suche nach dem sterbenden Alien fortsetzen.“
„Meine Freundin“, sagte Prilicla, „muß ich Sie nochmals daran erinnern, daß ich kein Telepath bin und Ihre Geheimnisse, Ihre innersten Gedanken also immer Ihr Eigentum bleiben? Aber Ihre Gefühle nehme ich ganz deutlich wahr. Sie setzen sich gerade aus mäßiger Aufregung, Freude und Vorsicht zusammen, wobei die Aufregung überwiegt und die Vorsicht kaum zu spüren ist. Das beunruhigt mich. Ich vermute, Sie haben eine Idee gehabt oder sind zu irgendeinem Schluß gekommen und müssen erst ein persönliches Risiko eingehen, bevor sie ihn beweisen oder widerlegen können. Wollen Sie ihn mir mitteilen?“
Die Antwort hätte einfach „nein“ lauten müssen, aber sie brachte es nicht über sich, die überaus feinen Gefühle des Empathen mit einer derart unhöflichen Entgegnung zu verletzen. Statt dessen entgegnete sie: „Kann sein, daß mir der Einfall nur gekommen ist, weil ich nichts über Ihre empathischen Fähigkeiten weiß. Daher auch meine Zurückhaltung, ihn zu erwähnen, weil ich mir erst sicher sein wollte, daß er etwas taugt, und ich die Absicht hatte, Verwirrung zu vermeiden.“
Prilicla schwebte weiterhin schweigend in der Mitte des Raums, und Cha Thrat fuhr fort: „Bei unserer ersten Durchsuchung des Schiffs konnten Sie die Anwesenheit des bewußtlosen Überlebenden zwar spüren, ihn aber wegen der bewußten emotionalen Ausstrahlung der anderen Aliens nicht orten. Jetzt, wo diese fast bis zur Bewußtlosigkeit beruhigt sind, ist die Situation noch immer dieselbe, weil sich der Zustand des Überlebenden verschlechtert hat, und ich fürchte, daß sich das selbst dann nicht ändern wird, wenn das Betäubungsmittel fertig ist und die anderen Aliens ebenfalls tief bewußtlos sind.“
„Diese Befürchtungen teile ich“, stimmte ihr der Empath leise zu. „Aber fahren Sie bitte fort.“
„In meinem Unwissen über die feinere Funktionsweise Ihrer empathischen Fähigkeiten habe ich angenommen, daß eine schwache emotionale Ausstrahlung in der Nähe leichter wahrzunehmen sein müßte als eine stärkere in größerer Entfernung“, erklärte Cha Thrat weiter. „Wären solche Unterschiede in der Stärke der Ausstrahlung aufgetreten, hätten Sie bestimmt etwas davon erwähnt.“
„Das ist allerdings wahr“, bestätigte Prilicla. „In vielen Punkten haben Sie recht. Aber in anderen. nun ja, meinen empathischen Fähigkeiten sind natürliche Grenzen gesetzt. Sie sind sowohl für die Art und Intensität von Gefühlen als auch für deren Nähe empfänglich, aber die Wahrnehmung selbst hängt auch von anderen Faktoren als der Entfernung ab. Dabei spielen der Intelligenzgrad und die emotionale Gemütstiefe, die Intensität der momentanen Empfindungen, die physische Größe und Stärke des Gehirns, von dem die eigentliche Ausstrahlung ausgeht, und natürlich die Bewußtseinslage eine Rolle. Wenn ich nur nach einer Quelle suche und sich meine Freunde, gewöhnlich das medizinische Team, zurückziehen oder sie ihre Gefühle bei der Suche im Zaum halten, kann man diese Grenzen normalerweise vernachlässigen. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Aber Sie müssen zu irgendwelchen Schlüssen gekommen sein. Wie lauten die?“
In sorgfältig gewählten Worten antwortete Cha Thrat: „Ich vermute, daß die Ausstrahlung des bewußtlosen Aliens aufgrund seines Aufenthaltsorts undeutlich ist und bleiben wird. Er befindet sich bestimmt in der Nähe oder sogar mitten unter den anderen, die bei Bewußtsein sind. Das schränkt den abzusuchenden Abschnitt auf das Schlafdeck und vielleicht die Decks darüber und darunter ein, und ich werde mich nur auf diese Bereiche konzentrieren. Sie haben doch eben gesagt, daß die physische Größe des Gehirns, von dem die Ausstrahlung ausgeht, eine Rolle spiele. Könnte es sein, daß der Überlebende ein sehr kleiner und junger FGHJ ist, der sich in der Nähe eines vernunftlosen Elternteils versteckt?“
„Das wäre eine Möglichkeit“, pffichtete Prilicla ihr bei. „Aber unabhängig vom Alter oder der Größe befindet sich das Wesen in sehr schlechter Verfassung.“
„Es muß kleine Stauräume, Wartungsbereiche und etliche Löcher und Winkel geben, in die ein Besatzungsmitglied oder Kind normalerweise nicht gehen würde, wo sich jedoch ein Lebewesen, das kaum noch bei Bewußtsein ist und sich aufgrund seiner Verletzungen nicht logisch verhält, versteckt haben könnte“, fuhr sie fort, wobei sie ihre wachsende Aufregung angestrengt unterdrückte. „Ich bin mir sicher, daß ich den Vermißten bald finden werde.“
„Ich weiß“, sagte Prilicla. „Aber da gibt es noch einiges mehr zu bedenken.“
Cha Thrat zögerte und sagte dann: „Bei allem Respekt, Cinrussker sind keine robuste Spezies und deshalb für körperliche Verletzungen anfälliger als beispielsweise meine Lebensform. Ich habe nicht vor, mich, aus welchem Grund auch immer, irgendeiner Gefahr auszusetzen, das kann ich Ihnen versichern. Aber wenn ich Ihnen meinen Plan in allen Einzelheiten auseinandersetzen muß, besteht die Möglichkeit, daß Sie mir die Durchführung verbieten.“
„Würden Sie mir denn gehorchen, wenn ich das täte?“ fragte Prilicla.
Sie gab lieber keine Antwort.
„Meine liebe Freundin“, fuhr Prilicla fort, „Sie verfügen über viele Qualitäten, die ich bewundernswert finde, wozu auch ein gesundes Maß an Feigheit gehört, aber Sie machen mir Sorgen. Sie haben bewiesen, daß Sie nur widerwillig Befehle befolgen, die Sie persönlich als falsch oder ungerechtfertigt empfinden. Sie haben sich im Orbit Hospital, auf diesem Schiff und vermutlich auch auf Ihrem Heimatplaneten ungehorsam oder zumindest starrköpfig verhalten. Das sind nicht unbedingt Qualitäten, die man bei jemandem von untergeordnetem Rang schätzt. Was sollen wir bloß mit Ihnen machen?“
Cha Thrat wollte dem kleinen Empathen gerade mitteilen, wie leid es ihr täte, ihm seelischen Kummer bereitet zu haben, aber dann wurde ihr klar, daß er ja schon genau wußte, was sie ihm gegenüber empfand, und sagte statt dessen: „Bei allem Respekt, Doktor Prilicla, aber Sie könnten mir einfach erlauben weiterzumachen, dann den Captain bitten, die Sensoren auf den von mir bezeichneten eingeschränkten Suchbereich zu konzentrieren, und mir später jede Veränderung sofort berichten.“
„Sie wissen, daß ich das, was ich gesagt habe, langfristiger gemeint habe“, entgegnete Prilicla. „Aber ich bin einverstanden und werde Ihrem Vorschlag folgen. Ich teile Freundin Murchisons Gefühle bezüglich der Situation — hier gibt es etwas höchst Merkwürdiges und möglicherweise Gefährliches, aber wir können nicht einmal vermuten, woher diese Gefahr droht — falls es überhaupt eine gibt. Seien Sie äußerst vorsichtig, meine Freundin, und passen Sie sowohl auf Ihren Verstand als auch auf Ihren Körper auf!“
Kaum hatte Prilicla sie verlassen, nahm Cha Thrat die Suche auf, wobei sie auf dem Deck über den Schlafsälen anfing und sich danach die darunter befindlichen Räume vornahm. Doch ihre eigentliche Absicht war von vornherein gewesen, die Schlafsäle mit den Aliens zu betreten und zu durchsuchen, und sowie sie sich darin befand, wußte sie, daß gleich eine Reaktion von demjenigen Wesen kommen würde, das die Sensordisplays überwachte.
Die Reaktion äußerte sich schließlich durch eine Stimme in ihrem Kopfhörer, die dem Captain höchstpersönlich gehörte.
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