Bat er um eine ausführlichere Erklärung, war es gewöhnlich die Pathologin Murchison, die ihm die fast ausschließlich medizinischen Antworten auf möglichst einfache Weise erteilte. Von entwicklungsgeschichtlichen Sprüngen oder den verschiedenen Beispielen auf anderen Planeten für den offenbaren Übergang der Wemarer von den Ernährungsgewohnheiten der Allesfresser zu denen der Fleischfresser in der Pubertät oder dem Umstand, daß auf der Erde Kaulquappen und Frösche dieselbe Umstellung durchmachten, hatte Gurronsevas überhaupt keine Ahnung, und es war ihm auch vollkommen egal. Für ihn waren Froschschenkel nichts weiter als eine kulinarische Delikatesse, die sowohl den einen oder anderen Terrestrier als auch einige Vertreter anderer Spezies mit einem kultivierten Gaumen erfreuten.
Im Gegensatz zur Terrestrierin Murchison hatte Gurronsevas in seiner Kindheit nie Frösche oder Kaulquappen gefangen und in ein Einmachglas gesperrt, weil es für diese Lebensformen auf Traltha keine Entsprechungen gab. Doch zu guter Letzt war es der Pathologin gelungen, ihm den Unterschied zwischen den Verdauungssystemen von Pflanzen-, Fleisch- und Allesfressern verständlich zu machen.
Bei den großen, gutes Fleisch liefernden Pflanzenfressern handelte es sich normalerweise um Wiederkäuer, die, solange sie wach waren, ständig fressen mußten, damit ihr komplizierter Magen die Nahrung umwandeln konnte; denn die Verdauung und Verwertung der Nährstoffe nahm wegen des hohen Anteils an Pflanzenfasern und wegen der wenig gehaltvollen Bestandteile sehr lange Zeit in Anspruch. Wurden diese Lebensformen von Raubtieren bedroht, konnten sie sich sehr schnell bewegen und sich manchmal durch Hörner oder Hufe schützen, doch ihnen fehlte die Geschwindigkeit und Ausdauer der Fleischfresser, die ihre Nahrung leichter umsetzen konnten und schneller als Energie zur Verfügung hatten.
Nur in selten auftretenden Umweltbedingungen entwickelte sich eine Spezies von Wiederkäuern zur dominanten Lebensform eines Planeten oder erreichte einen Intelligenzgrad, der zur Bildung einer Zivilisation führte. Falls sie nicht durch Jagden ausgerottet wurden, wurden sie von den Spezies, die den jeweiligen Planeten beherrschten, zu Haustieren gemacht und als dauerhafte Nahrungsquelle gefüttert und geschützt. Eine fleischfressende Lebensform erreichte so gut wie nie die Stufe der Zusammenarbeit über den Familienkreis hinaus, die die Entwicklung einer fortschrittlichen Zivilisation ermöglichte, und auch das gelang ihr nur dann, wenn sie ihr Raubtierverhalten und die Ernährungsgewohnheiten grundlegend änderte.
Allesfressende Lebensformen waren in Ernährungsfragen wesentlich anpassungsfähiger, da sie die Möglichkeit hatten, ihre Nahrung zu jagen und zu ernten oder — wenn sich ihre Anpassungsfähigkeit zur ersten Regung wirklicher Intelligenz entwickelt hatte — in Herden zu halten und anzubauen. Und wenn diesen intelligenten Allesfressern der Hungertod drohte, weil eine Ernte mißraten war oder ihre Herdentiere krank geworden und gestorben waren, fanden sie immer einen Weg zu überleben, selbst wenn sie eine Naturkatastrophe von dem Ausmaß erlitten hatten, wie sie über Wemar hereingebrochen war.
Zu dem Vorgehen, das die Jäger auf Wemar zur Zeit verfolgten, gab es eine wesentlich einfachere Alternative.
„Aus Instinkt oder Erfahrung haben die wenigen Tiere, die noch für die Jagd übriggeblieben sind, gelernt, sich aus dem Sonnenlicht zu halten“, fuhr Gurronsevas fort. „Ob klein oder groß, sie sind dämmerungs- oder nachtaktiv geworden, das heißt, sie verbergen sich tagsüber im Schutz tiefer Höhlen und Erdlöcher. Und da sie nur noch auf sich selbst Jagd machen können, sind sie wirklich äußerst gefährlich geworden. Wie Sie mir erzählt haben, sind Ihre Jäger häufig gezwungen, viele gefahrvolle Stunden im Sonnenschein zu verbringen, während sie durch die Schutzumhänge behindert die Tiere ausgraben oder ihnen in tiefe Höhlen folgen, weil die Tiere nachts im Vorteil sind. Was die Jäger leisten, ist harte und gefährliche Arbeit, und oftmals werden sie selbst zu Gejagten.
Ein bloßer Gemüsebauer würde zwar nicht die Bewunderung und das Ansehen eines mutigen Jägers gewinnen, doch er hat eine leichtere Arbeit und eine höhere Lebenserwartung, da sich das Gemüse nicht wehrt.
Solange man es nicht mit zu viel gemahlenen Cresselwurzeln serviert“, fügte er lächelnd hinzu.
„Gurronsevas!“ ermahnte ihn Remrath. „Das hier ist eine ernste Angelegenheit. Die Wemarer sind immer Fleischesser gewesen.“
Plötzlich wünschte sich Gurronsevas, wieder im Orbit Hospital zu sein und Chefpsychologe O’Mara oder noch besser Padre Lioren um Rat zu diesem Problem bitten zu können. Er führte Logik gegen eine bloße Überzeugung ins Feld, unbestreitbare wissenschaftliche Fakten gegen einen Zustand, der zur Religion geworden war, und wieder einmal ging die Wissenschaft aus dieser Auseinandersetzung als Verliererin hervor, wie es bei aufstrebenden Zivilisationen so oft der Fall war.
„Da haben Sie natürlich recht“, pflichtete er dem Wemarer bei. „Die Angelegenheit ist sehr ernst, und die Wemarer sind schon immer, so weit ihre Erinnerungen und Aufzeichnungen zurückreichen, Fleischesser gewesen. Vor einigen Jahrhunderten, als auf ihren Ebenen und in den Wäldern noch viele Tiere gelebt haben, die sie ohne Angst im Licht der Sonne jagen konnten, haben vermutlich nicht nur die Erwachsenen Fleisch gegessen. Ich glaube, und meine Ansicht wird von den Untersuchungen der Ärzte auf dem Schiff untermauert, die frisch entwöhnten Kleinkinder sind deshalb mit einem dünnen, mit Fleisch geschmacklich angereicherten Gemüseeintopf gefüttert worden, weil ihre jungen Mägen keine ausschließlich aus Fleisch bestehende Nahrung vertragen konnten. Dennoch werden sie schon in sehr jungem Alter — unter Berücksichtigung der geringeren Körpergröße — denselben Anteil Fleisch bekommen haben wie die Erwachsenen.
Doch weder die Kleinkinder noch Sie selbst sind reine Fleischesser.
Vom Körper her eignen sich die Wemarer nicht zu Bauern“, fuhr Gurronsevas fort. „Die langen Beine und Schwänze, die raschen Bewegungen und die Fähigkeit zum abrupten Richtungswechsel haben sich bei Ihrer Spezies lange vor dem Erwerb von Intelligenz wahrscheinlich deshalb entwickelt, um großen Raubtieren entwischen zu können. Bevor sich die Umweltkatastrophe auf Ihrem Planeten ereignet hat, ist Fleisch immer im Überfluß vorhanden gewesen, und Tiere zu jagen und in Herden zu halten war viel einfacher, als Gemüse anzubauen, und deshalb ist aus dem ausschließlichen Verzehr von Fleisch eine Tugend geworden. Aber als der Fleischbestand zurückgegangen ist — und jetzt werden Sie vielleicht Schwierigkeiten haben, sich mit dem, was ich sage, abzufinden—, hat sich diese Gewohnheit zur Untugend entwickelt.
Natürlich sage ich das nicht aus einer sicheren Erkenntnis heraus“, sprach Gurronsevas schnell weiter, bevor ihn Remrath unterbrechen konnte, „denn über Ereignisse, die sich vor zwei oder drei Jahrhunderten zugetragen haben, kann ich nur spekulieren. Doch ich würde mal vermuten, daß man, als die Fleischknappheit allmählich ernster wurde, die kurze Zeit, in der man die Kleinkinder mit Gemüseeintopf gefüttert hat, bis zum Eintritt in die Pubertät verlängert und die Beschränkung, kein Fleisch mehr zu essen, auf die alten Erwachsenen ausgeweitet hat, die körperlich bereits die besten Jahre hinter sich hatten, vermutlich sogar auf deren eigenen Wunsch. Kurz danach konnten sich wahrscheinlich nur noch die jungen Jäger und Jägerinnen sicher sein, genügend Fleisch zum Essen zu haben, und zwar wegen der zunehmenden Gefahren, denen sie sich ausgesetzt gesehen haben, und aufgrund ihrer Bedeutung für das Überleben ihres Stamms. Und in Zeiten großer Knappheit mag man von den Jägern sogar erwartet haben, das erbeutete Fleisch für sich selbst zu behalten.
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